Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 21.—22.) 79
21.—22. Mai. (Deutsches Reich.) Allgemeiner deutscher
Handwerkertag der zünftlerisch gesinnten Handwerker in Hannover.
Es beteiligen sich daran etwa 250 Delegierte aus allen Teilen
Deutschlands mit ca. 320 Mandaten. Den Vorsitz führt Ober-
meister Meyer aus Berlin. Außerdem sind anwesend der Agrarier
Frhr. v. Fechenbach, der Zentrumsführer Windthorst u. a. Die
Versammlung faßt eine Anzahl Resolutionen und setzt das Statut
für den Handwerkerbund fest.
Die Resolutionen gehen dahin: „Die Handwerkerfrage ist von der
gewerblichen Arbeiterfrage untrennbar. Nur durch Lösung der Handwerker-
frage kann dem gewerblichen Arbeiter die ihm gebührende soziale Stellung
zu teil werden."“ Und ferner „dahin zu wirken, daß der Großbetrieb in dem
Maße, als er die Arbeiter durch die Maschinen unnötig mache, zur Gewerbe-
steuer herangezogen werde;“ ferner, „einen Entwurf zu einer Gewerbeordnung
auszuarbeiten, denselben den gesetzgebenden Faktoren vorzulegen und den
Reichskanzler um baldige Inangurierung einer den gefaßten Beschlüssen ent-
sprechenden Gewerbegesetzgebung zu ersuchen.“ In dem nach langen und
heftigen Debatten festgestellten Statut wird als Hauptziel des Bundes be-
zeichnet: die Einführung obligatoriicher Innungen, die Revision der Gewerbe-
ordnung, Einführung von Arbeitsbüchern für alle Arbeiter, Beseitigung der
Konsumvereine, Verbot der Wanderauktionen und selbständiges Vorgehen bei
politischen Wahlen. (Gegen die Aufnahme der obligatorischen Innungen in
Statut votieren drei Delegierte.) Zum Vorort des Bundes wird mit
großer Mehrheit statt Berlin Köln gewählt.
21. Mai. (Württemberg.) II. Kammer: beschließt mit
43 gegen 46 Stimmen, nach dem Beispiel des preuß. Landtags,
gegen den Widerstand des Finanzministers Renner, das sog. Existenz-
minimum d. h. den von der Steuer freibleibenden Betrag des Ein-
kommens von 350 auf 600 .M zu erhöhen.
22. Mai. (Deutsches Reich.) Reichstag: der nordschleswig'sche
(dänische) Abg. Johannsen hat, unterstützt von dem andern däni-
schen Abg. Lassen und zahlreichen Mitgliedern der Fortschrittspartei,
eine Interpellation bez. des Vorgehens der preußischen Regierung
in Nordschleswig gegen die dänischen Optanten und andere dänische
Staatsangehörige eingebracht, und der Präsident fragt den Bundes-
bevollmächtigten Scholz, ob und wann er die Interpellation beant-
worten wolle.
Scholz erklärt, der Bundesrat lehne die Beantwortung ab und werde
sich auch an einer etwaigen Besprechung der Interpellation nicht beteiligen.
Während der Interpellant das Wort nimmt, verlassen sämtliche Bundes-
rat-mitglieder den Saal. Johannsen begründet seine Interpellation.
Lassen beantragt die Besprechung derselben. Richter (Hagen) ist vom
Schweigen der Regierung befremdet, da im preußischen Abgeordnetenhause
der Minister v. Puttkamer bei einer analogen Debatte auf Verhandlungen
im Reichstage verwiesen habe. Er hoffe, daß der Minister seinen Einfluß