Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 23.) 81
Unterstützung meistens so ungenügend, daß sie eine ausreichende Pflege des
Kranken nicht ermöglicht und den Ruin seines Haushaltes nicht zu ver-
hindern vermag. Bei vielen Arbeitern ist daher eine ernstliche Krankheit die
Quelle völliger Erwerbsunfähigkeit oder wenigstens Verarmung für die ganze
Lebenzeit. Das Gesetz sucht die Krankenversicherung auf einem doppelten
Wege zu erreichen: durch besondere Kassen und, soweit solche richt bestehen,
durch subsidiären Eintritt der Gemeinde-Krankenversicherung. Die normalen
Träger der Versicherung sind die Ortskrankenkassen, neben ihnen stehen gleich-
berechtigt die Fabriks-, Bau= und Innungs „Krankenkassen. Zweckmäßig führt
das Gesetz die Organisation des Krankenkassenwesens für nicht zu umfang-
reiche örtliche Bezirke auf Grundlage gegenseiliger Versicherung der Berufs-
genossen durch und will die schon — Einrichtungen so ausbilden,
daß sie allen Anforderungen genügen. Der Gemeinde ist zunächst die Verpflich-
tung auferlegt, alle versicherungspflichtigen Arbeiter bei Krankheit zu unter-
stützen oder Ortskrankenkassen zu errichten. Ebenso haben Unternehmer
größerer Betriebe bei bestimmten Voraussetzungen die Verbindlichkeit zur
Organisierung von Betriebs= (Fabriks-) Kassen. Neben diesen Arten von
Krankenkassen bleibt das Bestehen der vorhandenen Knappschafts-, Bau= und
Innungs-= Krankenkassen, der freien Arbeiterkassen und sonstiger Hilfskassen
gesichert. Das Verhältnis zwischen diesen verschiedenen Einrichtungen regelt
sich einfach dahin, daß alle Versicherungspflichtigen, soweit sie nicht einer
jener Kassen angehören, Mitglieder einer Orts= oder Betriebskrankenkasse sind.
Reicht in einem Bezirke die Zahl der Arbeiter zur Bildung einer lebens-
fähigen Krankenkasse nicht aus, so tritt die subsidiäre Form der Unterstützung
durch die Gemeinde ein. — Die Gemeinde gewährt von Beginn der Krankheit
an freie ärztliche Behandlung, Arznei und sonstige Heilmittel, bei Er-
werbunfähigkeit vom dritten Tage nacht Eintritt der Krankheit an, dreizehn
Wochen lang für jeden Arbeitstag ein Krankengeld in Höhe des üblichen
Taglohnes. Letzerer bildet zugleich die Grundlage für Berechnung der auf
1½ Prozent fixierten Beiträge der Arbeiter. Reichen die Kassenbestände
nicht aus, so hat die Gemeindekasse rückzahlbare Vorschüsse zu leisten. Uber-
schüsse sind zur Bildung eines Reservefonds heranzuziehen; die Verwaltung
ruht in der Hand der Gemeinde, welche sich der Erfüllung ihrer Verpflich-
tungen auch durch Errichtung von Ortstrankenkassen unterziehen kann. —
Die Ortskrankenkassen charakterisieren sich als selbständig gegliederte Genossen-
schaften, welche die in gleichen Berufszweigen beschäftigten Arbeiter vereinigen.
Die Errichtung soll erfolgen, sobald die zur Lebensfähigkeit der Kasse erfor=
derliche Anzahl von Berufsgenossen (mindestens fünfzig) vorhanden. Die
Zugehörigkeit zur Kasse ist die notwendige Folge des Eintrittes in die Be-
schäftigung im Gewerbezweige. Das Kassenstatut enthält Bestimmungen über
den Vorstand, Generalversammlung, Rechte der beitragspflichtigen Arbeitgeber,
die Klassen der Versicherten, Art und Umfang der Unterstützungen, und
sichert den Beteiligten die Selbstverwaltung. — Den Ortskrankenkassen treten
die Betriebs= (Fabriks-) Krankenkassen zur Seite; auch hier soll die Errich-
tung durch die Unternehmer erfolgen, sobald 50 Arbeiter im Betriebe be-
schäftigt sind. Mehrere Fabrikanten, welche zusammen regelmäßig. mehr als
100 Arbeiter beschäftigen, können eine gemeine Kasse errichten. Für Betriebe
mit besonderer Krankheitsgefahr kann auch bei einem Arbeiter-Personale unter
50 die Errichtung der Kasse angeordnet werden. Fabrikbesitzer welche diesen
Verpflichtungen nicht nachkommen, haben für jeden Arbeiter bis zu fünf
Prozent des verdienten Lohnes aus eigenen Mitteln in die Gemeinde zu oder
Ortskrankenkasse zu bezahlen. — Die Organisation ähnlicher Institute, soge-
nannter Baukrankenkassen, kann von Bauherren bei Eisenbahn-, Kanal,
Weg-, Strom-, Deich= und Festungesbauten, sobald eine größere zahl von
Schulthess, Curop. Geschichtskalender. XXIV. Bd. 6