Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder ( Juni 28. ) 99
politischen Gesetzes. Nach einer ziemlich heftigen Generaldebatte
werden die einzelnen Artikel nach dem in 2. Lesung genehmigten
konserv.-ultram. Kompromiß ohne Debatte und das ganze Gesetz in
namentlicher Abstimmung mit 224 gegen 107 Stimmen angenommen.
Aus der Generaldebatte: Stöcker (konserv.): Wenn Windthorst
mit der in Aussicht gestellten Trennung des Staates von der Kirche eine
Einschüchterung“ der Protestanten beabsichtigte, so werde eine solche nicht er-
reicht werden. Die protestantische Kirche werde sich dann, wenn auch Zunächst
schlechter gestellt, ebenso einrichten wie die katholische Kirche. Der echte Pro-
testantismus sei der wahre Hort für den Konservatismus und die Monarchie.
Die revolutionären Kräfte in rein katholischen Ländern seien vielleicht mehr
zu fürchten als unsere Sozialdemokratie. Das Zentrum und die Kurie möchten
demgemäß ihre Ausprüche mäßigen. v. Eynern (nat.-lib.): Die Würfel über
das Gefetz seien gefjallen. Die große Zahl derer, die hinter den National=
liberalen stehen, billigten die Haltung derselben; ihre Zeit werde wieder
kommen, wenn erst die unnatürliche Koalition zwischen Ultramontaniemus
Konservatismus und Radikalismus ausgelöst worden sei. Das vorgelegte
Gesetz könne er mit seinen Freunden nicht annehmen, weil darin von der be-
stehenden Gesetzgebung abgebröckelt, ein entsprechender Ersatz aber nicht ge-
schaffen werde. Er erinnert daran, daß der ganze Kampf ebenso wie das
geflügelte Wort „Reichsfeind“ vom Reichskanzler herrühre, der mit durch-
schlagenden Gründen wie kein anderer die Notwendigkeit des Kampfes gegen
die Ansprüche der Kurie nachgewiesen haben. Angesichts der Allianz zwischen
Deutschland, Oesterreich und Italien sei die Möglichkeit nicht ausgeschlossen,
daß den übermütigen Anforderungen der Kurie ein etwas gewaltsames Ende
durch diese Neiche gemacht. werde. Rultusminister v. Goßler: Als
Minister dürfe er sich nicht den Luxus gestatten, aus seinem persönlichen
protestantischen Standpunkt heraus die Politik eines großen paritätischen
Staates führen zu wollen. Der Notstand der katholischen Seelsorge könne
lediglich durch die Gesetzgebung veranlaßt sein, aber auch unter Beihilfe von
außerhalb derselben liegenden Interessen; jedenfalls müsse sich die Regierung,
die sich ihrer Verantwortung bewußt sei, die Frage vorlegen, was sie ihrer-
seits thun könne, um die Unzufriedenheit der katholischen Staatsbürger, unter
der der ganze Staat leide, zu beseitigen. In dieser Absicht ist die Regierung
mit Abänderungen und Erleichterungen vorgegangen, welche bereils vorher
in Baden zur Erreichung des kirchlichen Friedens gemacht wurden und die
sich dort bewährt haben. Deßhalb sei die Regierung zu der Erwartung be-
rechtigt, auch für unseren Staat aus diesem Gesetze den Frieden erstehen zu
sehen, und auch, daß sich die Kurie im Interesse der preußischen Katholiken
auf den Boden desselben stelle. Gelingt dies, so würden wir den Frieden
bekommen, gelingt es nicht, unn, die Regierung werde nicht stehen bleiben;
sei die Schleuse erst aufgegogen, so werde das Wasser weiter fließen als an—
zunehmen wäre, wenn man den Kanal ruhig hätte ausgraben können.
28. Juni. (Deutsches Reich.) Nachdem der Reichstag aus-
einander gegangen, schließt auch der Bundesrat seine diesjährige
Session.
28. Juni. (Preußen.) Herrenhaus: beschließt, sich beg. des
Zuständigkeitsgesetzes dem Willen des Abg.-Hauses zu fügen und
nimmt den § 13 in der Fassung desselben mit 84 gegen 24 Stimmen
an, nachdem Minister v. Puttkamer erklärt:
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