Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1883. (24)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. ( Juni 29 30.)  101  
einverstanden und gratuliert zu der neuen Koalition zwischen Konservativen 
und Fortschrittlern. v. Tiedemann (freikons.) wundert sich in einem Augen- 
blicke, wo ein Schritt gethan worden, um den katholischen Mitbürgern zum 
Frieden zu verhelfen, der von vielen Seiten zum Vorwurfe gemacht werde, 
zu sehen, daß der Führer des Zentrums nichts Eiligeres zu thun hat. als 
ein neues Kriegsfanal in Brand Zu setzen. Er bitte, an der allgemeinen 
Schulpflicht, dieser Grundsäule des preußischen Staates, nicht zu rütteln. 
Hier sage er: Sie sollen sie lassen stahn ! Und wenn man diesen Versuch 
fortsetze, so werde man bei diesem Beginnen eine Koalition aller Parteien 
gegen sich haben. v. Eynern (nat. lib.): Herr v. Tiedemann brauche nicht 
seine Verwunderung darüber auszusprechen, daß nach Annahme des kirchen- 
politischen Gesetzes Herr Windthorst mil seinen Forderungen hervortrete. 
Seine Freunde hätten' es vorausgesehen. Er freue sich, daß alle Parteien in 
dieser Frage eins sind und daß nach den Streitigkeiten der letzten Zeit ein 
Anknüpfungepunkt für beide Teile des Hauses gefunden worden sei. Wenn 
man fest bleibe, dann sei zu hoffen, daß dem Staate eine zweite Niederlage 
erspart bleiben werde. 
Das Scheitern des Gesetzes bedeutet einen neuen Trinmph des Zen- 
trums. Die Partei des Hrn. Windthorst perhorresziert den preußischen 
Schulzwang, weil durch denselben die Jugend korrumpiert werde; sie verwarf 
also auch das Gesetz als Mittel zur Durchführung des Schulzwangs. Da 
sie vorläufig nur die äußerste Rechte der Konservativen, die HH. Stöcker, 
v. Hammerstein u. s. w. auf ihrer Seite hat, wäre sie ohnmächtig gewesen. 
Aber was auf dem direkten Wege nicht zu erreichen war, hat sie auf dem in- 
direkten Wege erreicht, indem sie ihre Gegner in Streit brachte. Minister 
v. Goßler machte plötzlich aus dem Antrage des fortschrittlichen Abgeordneten 
Bergenroth (den Eltern ein Widerspruchsrecht gegen die zwangsweise Ab- 
holung der Kinder zur Schule zu geben; im Falle aber der Widerspruch sich 
als nicht gerechtfertigt erweise, die Strafe auf 30 M. ( zu erhöhen) eine Art 
Kabinetsfrage. Damit war die Taktik des Zentrums gegeben. Wenn es den 
Antrag Bergenroth zur Annahme brachte, war das häßliche Gesetz beseitigt. 
Auch die halbamtliche „Prov.  Korr.“ tritt den Gelüsten des Zentrums 
entgegen, indem sie erklärt: „Die Beschuldigungen, als ob das geschichtliche 
Verhältuis der Volksschule zur Kirche, beziehungsweise zur Beaufsichtigung 
durch Diener der Kirche, gefährdet sei, sind vollzählig grundlos. Wenn von 
Gefahren überhaupt die Rede sein kann, so sind dieselben da zu suchen, wo 
unter der Devise „Wiedereroberung der Schule durch die Kirche“ an den be- 
stehenden, als segensreich erprobten Einrichtungen gerüttelt und eine Ver- 
schiebung des geschichtlich gewordenen Besitzstandes angestrebt wird. Der 
Entschluß, jedes Eindringen in das dem Staate vorbehaltene Gebiet mit 
aller Schärfe zurückzuweisen, steht bei der Staatsregierung ebenso uner- 
schütterlich fest wie die Absicht, das historische Verhältnis der Schule zur 
Kirche aufrecht zu erhalten."“ 
29. Juni. (Hamburg.) Bei einer Wahl gum Reichstage siegt 
in der Stichwahl der Sozialdemokrat Bebel mit 11,711 Stimmen 
über den Fortschrittler Rabe mit 11,608 Stimmen. Hamburg ist 
nunmehr im Reichstag durch 2 Sozialdemokraten und 1 Fort- 
schrittler vertreten. 
30. Juni. (Deutsches Reich.) Die Zuckerenquetekommission 
beginnt ihre Arbeiten mit der Vernehmung von Sachverständigen, 
deren Aussagen stenographisch ausgenommen werden.
	        
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