Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1883. (24)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. „Dez. 5.5 165 
und Cremer stimmen mit Ja, im übrigen stimmen die Parteien 
geschlossen. 
Die Erklärung Puttkamers gegen die geheime Abstimmung 
bei den Reichstagswahlen macht ungehenres Aufsehen, da man wissen 
will, daß sie nicht nur im Sinne. sondern im direkten Auftrage des Reichs- 
kanzlers erfolgt sei. Die betreffende Stelle der Rede Puttkamers lautet: 
.„Wir haben bei der Gründung des Norddeutschen Bundes für die „poli- 
tischen Wahlen die geheime Abstimmung eingeführt. Es wird die Frage 
sein, zu untersuchen, ob sich diese Institution bewährt hat, ob sie nicht das 
Gegenteil von dem erreicht hat, was man durch ihre Einführung zu erreichen 
hoffte. M. H., nach unsern Erfahrungen ist das wenigstens in hohem Maße 
zweifelhaft, wir meinen, daß der ganze Stand unserer politischen Moral seit 
der Einführung des geheimen Wahlrechts im Reichstage keine Fortschritte 
gemacht hat, daß wir uns seitdem auf einer schiefen Ebene befinden, und es 
wird Sache der ernsten Erwägung der preußischen Regierung sein, ob sie 
nicht im Gegensatz zu dem vorliegenden Antrag darauf wird Bedacht nehmen 
müssen, ihren Einfluß im Bundeerat einzusetzen, daß Initiativanträge aus 
dem Bundesrat hervorgehen, welche die geheime Abstimmung für den Reichs- 
tag abschaffen. (Große Sensation.) Daß das Ihr Befremden erregt, ist mir 
sehr klar, aber die ermunternden Zurufe auf sener Seite des Hauser (rechte-) 
geben mir Anregung, in diesen Gedanken noch elwas weiter einzutreten. Die 
Regierung ist der Meinung, daß zwar dar Wahlrecht ein sehr kostbares poli- 
tisches Recht ist und daß es eines Kulturstaates durchaus würdig ist, es so- 
weit auszudehnen, wie das öffentliche Wohl und das politische Interesse des 
Landes es irgend gestatten; aber je weiter man es ausdehnt, umsomehr muß 
man sich nach der Meinung der Regierung doch auch mit dem Gedanken 
durchdringen, daß dieses Recht gleichzeitig eine sehr schwere Pflicht involviert. 
Das Wahlrecht ist nach unserer Auffassung nicht bloß ein individuelles Recht 
des einzelnen, seine Parteiansicht zur Geltung zu bringen, sondern es ist ein 
ihm im öffentlichen Interesse anvertrautes Amt, welcher mit einer schweren 
Verantwortlichkeit verbunden ist, und wenn man das Wahlrecht von diesem 
Gesichtspunkte aus betrachtet, so bin ich allerdings entschieden der Meinung, 
daß soviel ins Auge springt, daß die öffentliche Abstimmung nur der allein 
würdige Ausdruck der Ausübung des Wahlrechts ist. Wer das Recht hat, 
seine Meinung zur Geltung zu bringen, der sollte auch den Mut haben, sie 
zur Geltung zu bringen; das ist ein durchaus gesunder politischer Grund- 
sabz, und ich bin der Meinung, daß die deutsche Nation nicht gut thut, ihn 
auf dem Gebiete zu verlassen, wo sie ihn noch hat. Ich gebe ja zu, daß 
es Parteien gibl, welche ihrer ganzen Anlage und ihren ganzen Bestrebungen 
andl ein Interesse daran haben, durch die geheime Abstimmung die Masse 
der Nation so zu gestalten, daß das Gefühl der Verantwortlichleit ihr ver- 
loren geht, aber für die Regierung ist der entgegengesetzte Standpunkt der 
maßgebende. Wir sind der Meinung, daß es für die öffentliche Moral nicht 
Verderblicheres geben kann, als wenn man den Wähler, den einzelnen so- 
wohl wie die ganze Masse derselben, von dem Gefühl der Verantwortlichkeit 
für seine Stimmabgabe durch die geheime Wahl entkleidet. Das klingt ja 
natürlich im Lichte derjenigen Meinung, welche alles auf den ausgiebigen 
Rechtsschutz und auf die Umgebung des Einzelrechte mit den ausgedehntesten 
Garantien stellt, jehr hart, aber ich glaube, daß es ein ungesunder Zug 
unserer Zeit ist, sich bei öffentlichen Einrichtungen nicht in erster Linie die 
Frage vorzulegen: Wie stimmt das mit dem öffentlichen Wohl? sondern 
immer nur: Was hat der einzelne davon? Mie wird das individuelle Recht 
davon getroffen, oder wie wird es geschützt? Unserer Auffassung nach liegt
	        
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