Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1883. (24)

190 Die Oesterreichisch-Angarische Monarchie. (März 9.) 
gewissenloser Agitatoren, Opfer einer schlechlverstandenen Zeitströmung und 
einer schlechtverdanten narkotischen Lektüre. Der Geist des fanatischen Arbeiter- 
führers Most allerdings hat seinen Triumph im „gemütlichen Wien“ gefeiert 
und seine bluttriefenden Schriften haben ihren Zweck bei diesen Vorstadt- 
arbeitern erreicht. Dennoch hat die Lektüre den Charakter, die Menschen an 
sich nicht völlig umgestalten können. Wir sehen, wie dieselben vor den furcht- 
baren Plänen zurückbeben oder wie sie unter Zagen und Zittern an die 
Ausführung gehen, wenn sie es nicht vorziehen, sich vor der Entscheidung 
unter irgend einem Vorwande beiseite zu drücken. Einen reifen und ver- 
ständnisvollen Apostel hatte Vot nur in dem Arbeiter Pfleger gefunden, 
welcher sich ale die Seele des Wiener Bundes erweist, und welcher bei aller 
Verwirrung der Begriffe Fähigteit genug besitzt, einzelne „Zu großen Thaten“ 
zu begeistern. Das Urteil gegen ihn ist daher auch ziemlich scharf. Im 
übrigen haben die Wiener Geschworenen ein beachtenswertes Beispiel von 
Unbefangenheit und feiner Unterscheidung gegeben und die fast sprichwörtliche 
Angst des „Vourgeois"“ Lügen gestraft. Das Berdikt besagt nämlich kurz 
und gul: Throrie soviel ihr wollt, aber keine Gewaltthat! Doktrinen sind 
frei, weil man die überzeugung nicht feiseln kann; aber gesehwidrige Hand- 
lungen, auch nur benonnene, ohne Resultat verlanfende, sind ftraffällig. Die 
schwere siebenmonatliche Vorhaft ist für die Freigesprochenen immerhin Strafe 
genug. Im ganzen jollen in Wien 40 Klubs des anarchistischen Bundes be- 
slanden haben; wie stark jeder Klub war, kann nur vermutet werden. Doch 
kann man die Zahl der Milglieder jedes Klubs aus 20 bis 30, höchstens 40 
annehmen. Nur die Vor= und Hintermänner standen mit den übrigen Zirkeln 
in Verbindung und alle Mitglieder waren nicht eingeweiht in die Satzungen, 
Pläne und Mysterien der anarchistischen Führer. Daß diese Zirkel gegeu- 
wärtig vollständig gerstört sind, ist nicht sehr wahrscheinlich; aber sicher ist, 
daß die öffentlichen Verhandlungen im Schwurgerichtssaal nicht angethan 
sind, ihnen neue Anhänger, Adepten und überhaupt Kräftigung zuzuführen. 
9. März. (Oesterreich.) Neichsrat: bei der Weiterberatung 
des Budgets und dem Titel Mittelschulen verlangen die Slowenen 
eine Resolution, welche die für die Mittelschulen in Krain getroffene 
Verfügung auch auf andere von Slowenen bewohnte Gegenden aus- 
dehnen will, namentlich auf Südsteiermark und Kärnthen, aber selbst 
vom Unierrichtsminister zurückgewiesen wird. In der That fehlt 
den Slowenen für den Mittelschulunterricht vorerst noch alles, na- 
mentlich irgendwie befähigte Lehrer, Schulbücher u. dgl. 
Die s. Z. zu Prüfung des Antrags des Grafen Wurmbrand, 
die deutsche Sprache verfassungsmäßig als Staatssprache anzuer- 
kennen, ernannte Kommission erstattet endlich ihren Vericht und 
zwar in einem Mehrheits= und einem Minderheitsgutachten. 
Der Bericht der Majorität geht zunächst von der Behauptung 
aus, daß der Begriff der Staatssprache durch die Debatten des Ausschusses 
nicht präzisiert worden sei, und wegen dieses Mangels an Klarheit allein 
schon sich die Ablehnung des Antrages Wurmbrand empfehle. Weiter wird 
u. a. gesagt, daß „die geschichtlich- Entwicklung der österreichischen Verfassungs- 
zustände sich in Ansehung der Nationalitätenfrage als eine stufenweise ort- 
schreitende Einschränkung der Staatsgewalt zu Gunsten der nationalen Frei- 
heit der Staatsbürger kennzeichne.“ Von diesem Gesichtspunkte aus stelle
	        
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