Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1883. (24)

Die Orsterreichisch-Ungarische Monarchie. (Aug. 6.) 223 
hervorgerufen. Dieselbe macht sich zuerst in Preßburg Luft, wo sich 
allabendlich zahlreiche Pöbelhaufen unter dem Ruf „Eljen Istoczy“ 
zusammenrotten, die Stadt durchziehen und den Juden die Fenster 
eimwerfen, bis das Militär einschreitet und dem Unfug ein Ende macht. 
Tisza und die ungarische Regierung hatten in jenem Prozeß die 
Juden gegen die absurden Beschuldigungen unter ihren Schutz genommen 
und sich offen und unumwunden gegen die Verfolgung der Inden ausge- 
sprochen. Jetzt kommen sie dafür ine Gedränge. Anfangs herrschte noch 
äußerliche Ruhe; aber die Erbitterung der ungarischen Gentry über die Hal- 
tung der Negierung und den Ausgang des Prozesses machte sich schon bei der 
Wahl eines Distrilts-Oberkuratorsr der evangelischen Kirche jenseite der Theiß 
mit der Hauptstadt Debreczin Lusl. Der „Papst von Debreczin", Koloman 
Tisza, ist bei der Wahl zu diesem höchsten Vertrauensposten der „Kern- 
magyaren“ mit 411 Stimmen durchgefallen und es wurde Herr Valyi zum 
Oberkurator gewählt. Es ist derselbe Rirchendistrikt, der vor 23 Jahren 
den Mut hatte, dem Ministerpräsidenten TiSza den ersten Lorbeerlranz zu 
reichen, als Tisza die Rechte der Prolestanten gegen die Ubergriffe der da- 
maligen Wiener NRegierung vertridigte. Es wäre Selbsttäuschung, zu leugnen, 
daß die Popularität Tiezas durch den Eszlarer Prozeß einen Stoß erlitten 
hat und daß sein Kampf gegen die öffentliche Meinung in der Indenfrage 
einen gefährlichern Charatter besitzt als seine ähnlichen Kämpfe in der Bank- 
frage und in der Besetzungefrage. Jede Macht — selbst die absolute hat 
gewisse Grenzen, die sie ohne Gefahr nicht überschreiten darf. Der Schah 
von Persien kann seinem Bruder den Kopi abhauen lassen.) aber er lann 
seinen Unterthanen nicht befehlen, daß sie Wein trinlen. Tisza wird es 
auch erfahren, daß er die Schwierigkeiten, welche ihm aus dem Gegensatze 
mit der öffentlichen Meinung in politischen Fragen erwachsen, viel leichter 
besiegen kann als jene, welche aus der Velämpfung der Vorurteile entstehen. 
Der Landadel, der ausschlaggebende Faktor im öffentlichen Leben des Landes, 
meint, daß er seinen Verfall den Junden schuld zu geben habe, und diese Au- 
sicht hat er immer mehr und mehr auch dem Vaner beigebracht. „Der Inde“, 
heißt es, „ist an allem schuld. Er besticht alte Bramten und macht was er 
will; er ijt der Oerr in Ungarn.“ Natürlich heißt dies die Wahrheit denn 
doch sehr übertreiben. Die Hauptschuld an dem Versall des Landadels- trägt 
dieser selbst, weil er nicht sparsam und nicht arbeitsam ist. Aber der Jude 
ist der Sündenbock, und es scheint ein müßiges Streben gegen die ülber- 
zeugung der Gentry und der Vauern anzukämpfen. Die „Agrarier" beginnen 
auch in Ungarn die Oberhand zu gewinnen. 
6. August. (Böhmen.) Landtag: beschließt nochmals die 
Niedersetzung einer Kommission behufs Einleitung einer Landtags- 
wahlreform im Sinne der Czechen mit allen czechischen gegen alle 
deutschen Stimmen. 
Dem Beschluß geht diesmal eine heftige Delmite voraus. Die Deutschen 
bringen darin ihre Idee einer administrativen Trennung des Landes nach 
den beiden Volksstämmen offen und nachdrücklich zur Sprache. Die Czechen 
geraten aber darüber geradezu außer Rand und Band, da eine solche der 
Ansnützung ihrer Masorität zur ausschließlichen Beherrschung des ganzen 
Landes und ihrem lebten Ziele, der Wiederherstellung des ehemaligen König- 
reichs Böhmen mit Mahren und Schlesien ein jähes Ende machen würde. 
Und was im Landtage nicht wohl gesagt werden konnte, ergänzt die cechische
	        
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