Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1883. (24)

Die Oesterreichisch-Mngarische Monarchie. (Nou. 18 —17.) 2.11 
setzentwurf über die Einführung der obligatorischen Civilehe ein- 
zubringen. 
Die überwältigende Mehrheit entipricht nicht gan! dem Stand der 
Frage in der Bevölkerung, in der öffentlichen Meinung des Landes. Die 
Abstimmung erfolgt nicht namentlich; außer den an Zahl sehr geringen 
Antisemiten vermied jede Partei, den Antrag auf namentliche Abstimmung 
Zu stellen, da bei solcher sehr viele Abgeorduete aus allen Lagern sich ab- 
sentiert hätten; die Antisemiten aber vermochten für ihren Antrag auf nament= 
liche Abstimmung die von der Geschäftsordnung geforderten zwanzig Unter- 
schriften nicht aufzubringen. Bei der aljo nicht namentlichen Abstimmung 
blieben nur 6 Anlisemiten, etwa 20 katholische Geistliche und vereinzelte 
Abgeordnete aus allen Parteien sitzen. Allein im Lande ist die antisemitische 
Strömung notorisch eine sehr verbreitete und sehr starke. Der Antrag 
war denn auch von vorneherein eine Demonstration gegen diese Strömung 
und gegen die vielfachen rohen Erfesse gegen die Juden gewesen, die Ungarn 
in der öffentlichen Meinung Europas schweren Eintrag gethaun hatten. Allein 
einem erheblichen Teile der liberalen Partei ging der Antrag nicht weit 
genug, da er die Einführung der vollen obligatorischen Civilehe gewünscht 
hätte, was jedoch Tisza und die Regierung für verfrüht hielten. Den katho- 
lischen Bischöfen und den Katholiken ging dagegen der Antrag schon zu weil, 
da sie von der Civilehe überhaupt nichts wissen wollen. Auch ist die Zu- 
stimmung zu dem Beschlusse seitens der Oberhauses, in dem die katholischen 
Bischöfe eine sehr gewichtige Rolle spielen, nichte weniger als sicher, obgleich 
man hofft, daß dasselbe dieser überwältigenden Mehrheit gegenüber es nicht 
wagen werde, sein V. Veto einzulegen. Für den Autrag Györys, welcher die 
Regierung anweisen wollte, noch in dieser Session einen Gesetzentwurf über 
die Einführung der obligatorischen Givilehe vorzulegen, und zwar in der 
Weise, daß diese Vorlage noch in dieser Session Gesetz werden könne, stimmte 
denn auch bloß die äußerste Linke; er wurde daher mit großer Majorität 
abgelehnt. 
18. November. (Böhmen.) In Prag wird das cgeechische 
Nationaliheater mit großem Pomp eröffnet. 
Der Eröffnung (durch die nationale Oper Libussaf wohnen der Statt- 
halter von Böhmen, Baron Kraus, der Statthalter von Mähren, Graf Schön- 
born, sowie polnische und ruthrnische Deputationen im Nationalkostüm bei. 
Dagegen hält sich die deutsche Geselischaft Prags davon sern. Nieger feiert 
das Ereignis in schwungvoller Rede. Die festlich geschmückten Straßen der 
Stadt durchzieht eine nach Tausenden zählende Menge, nationale Lieder 
singend; den czechischen Redaktionen werden Ovpationen bereitet. Abends 
demonstriert. der czechische Pöbel vor dem deutschen Thrater und dem dentschen 
Kasino. Die Befriedigung ist den Czechen wohl zu gönnen, nur sollien sie 
nicht vergessen, daß ihre Sprache noch nicht einmal eine Kultursprache, ge- 
schweige denn eine Weltsprache ist und auch nie werden wird. Sie wird 
eben doch nur in einem verhältnismäßig kleinen Winkel Enropas gesprochen 
und ihre Literatur ist noch höchst unbedentend; darin steht sic selbst dem 
Polnischen und Magyarischen vorerst noch weit hurick. Bis aber die Slaven 
in der Weltentwicklung an die Stelle der Germanen und der Romanen treten, 
wird es noch Jahrhunderte dauern. 
19. November. (Oesterreich.) Der Durchschlag des Arlberg- 
Tunnels erfolgt in Anwesenheit des Handelsministers v. Pino im 
Innern des Berges mit großer Festlichkeit. 
Schullhess, GCurop. Geschichtskalender. XXIV. d. 10
	        
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