Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1883. (24)

4115 Uebersicht der polilischen Enlwichelung des Jahres 1883. 
europäische Friedensbündnis und die Thatsache, daß der deutsche 
Reichskangler den letzteren persönlich vermittelt hatte, obgleich Ruß- 
land dadurch an einer empfindlichen Stelle schwer getroffen werden 
mußte. Selbst Bulgarien machte einen energischen Versuch, sich 
zwar nicht gerade der russischen Obervormunbschaft, aber doch dem 
unerträglichen Eingreifen seiner russischen Ministergenerale in alles 
und jedes und den Intrignen des russischen Generalkonsuls zu ent- 
ziehen. Bulgarien aber bildet für Rußland bezüglich der Balkan= 
halbinsel ein Interesse ersten Nanges und dieses konnte sich seinen 
bisherigen Cinfluß auf das bulgarische Militär und bis auf einen 
gewissen Grad die Verfügung über dasselbe für alle Eventualitäten, 
ohne eine entscheidende Niederlage zu erleiden, unmöglich entreißen 
lassen. Und da zeigten denn allerdings die Leiter der deutschen und 
österreichischen Politik, daß sie nicht geneigt seien, den Gegensatz# 
gegen Rußland auf die Spitze zu treiben. Sie unterstützten die 
bulgarische Bewegung ihrerseits nicht, suchten im Gegenteil be- 
sehwichtigend auf und durch den Fürsten Alerander einzuwirken. 
Wirklich kam auch ein Vertrag zwischen Rußland und Vulgarien 
zu stande, nach welchem das bulgarische Kriegsministerium nach wie 
vor einem russischen General vorbehalten bleiben und die kleine 
Armee des Fürstentums nach wie vor meist von russischen Offizieren 
befehligt werden und diese ihrerseits vom russischen Ministerium in 
Petersburg abhängen sollten. Auch that Deutschland lange gar 
nichts gegen die Anhäufung gewaltiger russischer Militärmassen in 
Polen und verstärkte erst im Herbst 1883 einige seiner Garnisonen 
an der russischen Grenze und seine Flottenstation in der Ostfee, ver- 
schob aber auch da noch weitere Anordnungen in derselben Richtung 
aufs Frühjahr 1884. 
Durch all das mußte sich Nußland nachgerade doch überzeugen, 
daß die seit fünf Jahren gegen Deutschland eingenommene miß- 
trauische, in jeder Beziehung unfreundliche, vielfach sogar drohende 
Stellung seinen Interessen wenig förderlich gewesen sei und ihm 
wenig Vorteile und gar keine greifbaren Erfolge eingebracht habe, 
sowie daß die zersetzenden Elemente durch dieselbe eher unterstützt 
und genährt worden seien als nicht. Sie hätte nur einen Sinn 
gehabt, wenn die maßgebenden Kreise Rußlands Lust gehabt hätten, 
sich, auf die panslavischen Ideen und Bestrebungen gestützt, in revo- 
lutionäre Bahnen nach innen und außen drängen zu lassen; auch 
die Zettelungen mit Frankreich wären nur unter dieser Bedingung
	        
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