Uebersicht der polilischen Enlwichelung des Jahres 1883. 415
mehr als bloße Phantasmagorien gewesen. Dazu aber hatte der
Zar doch gang und gar keine Lust; so wenig deutschfreundlich und
so entschieden slavisch und altrussisch er auch von Haufe aus ge-
sinnt war, in den wenigen Jahren seiner Regierung hatte er doch
Erfahrungen gemacht und vielfach gelernt, die Dinge zu nehmen,
wie sie sind, und nicht wie sie vielleicht sein könnten. Schließlich
mußte die überzeugung durchbrechen, daß Rußland und das Deutsche
Reich zwar vielleicht nicht allzu viele gemeinsame Interessen hätten,
daß aber ihre speziellen Interessen sich nirgends unversöhnlich ent-
gegen ständen und daß eine gute freundschaftliche Nachbarschaft unter
allen Umständen für beide vorteilhafter sei, als eine zweidentige und
halbfeindliche Stellung, ohne sich völlig klar zu sein, was man
eigentlich wolle. Allerlei unklare Einflüsse, persönliche Interessen und
persönliche Verstimmungen konnten auf die Dauer doch nicht vor-
halten. Der deutsche Reichskanzler scheint von Anfang an von
dieser Ansicht ausgegangen zu sein und die Haltung Rußlands seit
Gortschakoff mehr als eine momentane Verirrung ausgefaßt zu
haben, wenn er auch allerdings jede Gelegenheit ergriff, Rußland
zu zeigen, daß er jeden Augenblick wachsam und bereit sei, daß es
sich auf falschem Wege befinde und daß es gegen ihn und die
von ihm vertretenen europäischen Interessen auf demselben nicht
aufzukommen vermöge. Jedenfalls stand er einem gegenfeitigen
Wiedereinlenken in das alte Verhältnis in keiner Weise im Wege
und noch weniger war das von seiten des deutschen Kaisers der Fall,
der kein Hehl daraus machte, daß die eingetretene Spannung
seinen persönlichen Gefühlen und Neigungen durchaus zuwider sei.
So kam denn endlich im Laufe des Jahres 1883 in Rußland der
Entschluß zum Durchbruch, sich zu einer totalen Wendung zu be-
quemen und zu Preußen und Deutschland wieder in das alte Ver-
hältnis zurückzutreten. Gewissermaßen die Einleitung dazu bildete
eine Diskussion zwischen den russischen und den deutschen offiziöfen
Organen über die Nolle, welche der deutsche Reichskanzler als ehr-
licher Makler auf dem Berliner Kongreß, der ja den ersten Grund
zu der Verstimmung Rußlands gegeben hatte, gespielt haben sollte,
aber nicht gespielt haben wollte. Rußland befriedigte oder beruhigte
sich mit den ihm so nachträglich gegebenen Erklärungen oder viel-
mehr Aufklärungen. Alsbald nachher kam der Leiter der auswär-
tigen Angelegenheiten Rußlands, v. Giers, auf seinem Wege nach
Süden wie im Vorjahre nach Verlin und suchte auch den deutschen