Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1883. (24)

Eng- 
land. 
Die Ko- 
lonien. 
456 Uebersicht der politischen Enlwichelung deo Jahreo 1883. 
Doch dürfen darüber allerdings nicht allzu rasch Folgerungen ge- 
zogen und ein Urteil gefällt werden. 
So verfrüht und voreilig ein solches Urteil bez. Frankreichs 
wäre, denn dieses wird unter allen Umständen eine große Macht 
und das wichtigste Kulturelement für Europa neben Deutschland 
bleiben, so wäre es noch viel voreiliger, von einem allmäligen Nieder- 
gange Englands sprechen zu wollen. Aber den Höhepunkt seiner 
Machtentwicklung nach außen scheint es allerdings erreicht, wo 
nicht schon überschritten zu haben. Das unerhörte Fiasko, das es 
in Agypten gemacht, hat augenblicklich aller Augen auf dasselbe 
gerichtet und die überwiegende Ansicht geht dahin, daß es wenig- 
stens das ungeheure Kolonialreich, mit dem es die ganze Welt um- 
spannt, nur noch mit einiger Mühe aufrecht und zusammen gu 
halten vermöge und daß jedenfalls eine noch weitere Ausdehnung 
desselben, die es durch die Besetzung Agyptens angestrebt hatte, seine 
Kräfte gegenüber den anderen Seemächten übersteige. Noch weniger 
aber ist es im stande, in den kontinentalen Händeln Europas die- 
selbe Nolle wie früher zu spielen. Wenn es sich aus denselben 
nicht ganz zurückziehen will, bleibt ihm nichts anderes übrig, als 
sich entweder an Deutschland oder an Frankreich näher anzuschließen; 
die Konservativen sind für das erstere, die Liberalen unter Gladstone 
für das letztere. Inzwischen glaubte selbst die liberale Partei im 
Parlamente die Erbauung eines Tunnels mit Eisenbahn unter dem 
Kanal durch zur Verbindung zwischen England und Frankreich ver- 
hindern zu sollen, da sich der öffentlichen Meinung Englands mo- 
mentan eine fast lächerliche Furcht vor einer französischen Invasion 
auf diesem Wege bemächtigt hatte, während wirtschaftlich das Un- 
ternehmen schon jetzt für beide Teile äußerst vorteilhaft gewesen 
wäre und vielleicht bald zur vollen Notwendigkeit werden wird. 
In seinen alten Kolonien steht England allerdings noch fest, 
aber doch mehren sich die Schwierigkeiten, mit denen es zu kämpfen 
hat. Die Idee einer großen südafrikanischen Konföderation ist ge- 
scheitert und hat ganz aufgegeben werden müssen: das holländische 
Element regt sich dort fortwährend energisch und scheint gegen das eng- 
lische eher Fortschritte als Rückschritte zu machen. In Ostindien 
hat sich der Ruf „Indien für die Indier“ erhoben und wenn er 
den Engländern auch noch nicht gerade gefährlich geworden ist, so 
hat sich die Regierung dadurch doch zu Konzessionen veranlaßt ge- 
sehen und ist bei der dortigen englischen Bevölkerung, die sich
	        
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