Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1883. (24)

Das deutsche Reich und seinr einzelnen Glieder. (Febr. 22—28.) 35 
er, auf dem Boden der kaiserlichen Botschaft zu stehen, welche die Not und 
das Elend abstellen will; darin, so sei er überzengt, habe er die gesamte 
konservative Partei hinter sich, deren Spitze der historische königstreue Adel 
bilde. Büchtemann erklärt die Ausführungen Wagners als sanatischen, in 
sich unklaren, seiner Ziele unbewußten Sozialismus, der sich von der Sozial- 
demokratie so wenig unterscheide, daß sich der übergang. in diese ohne Mit- 
wirkung Wagners vollziehen werde. Rickert: Wagner's Ausführungen seien 
reiner Komunismus; Wagner wolle nichts Anderes als Bebel, nur daß dieser 
es besser mache, als Wagner. Die Arbeiter wissen, was sie von den Kon- 
servativen zu gewärtigen haben. Rickert protestiert dagegen, daß die kaiser- 
liche Botschaft identifiziert werde mit den kommunistischen und sozialistischen 
Plänen Wagners. Rauchhaupt erwidert: In seinen allgemeinen An- 
sichten habe Wagner in zwei Punkten mit den Konservativen denselben Boden: 
erstens darin, daß die Krone in Preußen allein die Macht habe, in der so- 
zialen Bewegung das erforderliche Gleichgewicht herzustellen, was den Par- 
teien allein nicht gelinge: zweitens darin, daß neben dem Staate auch die 
Kirche an dieser Lösung teilnehmen müsse. Um dem Christentum wieder 
Einfluß zu verschaffen, habe die konservative Partei sogar das Odium der 
antisemitischen Bewegung auf sich genommen, weil sie einsah, daß damit dem 
Christentum eine neue Anregung gegeben werde. Unklarheit könne man den 
Reden Wagners am wenigsten vorwerfen; gerade daß sie klar und treffend 
seien, errege das Aufbäumen der Liberalen. Hänel konstatiert, daß Rauch- 
haupt nicht im mindesten dargelegt habe, wie seine Partei zu Wagner stehe; 
er habe sich offenbar vorbehalten, einzelnen Sätzen Wagners zuzustimmen, 
anderen nicht. Was die Konservativen hier als soziales  Programm bezeich- 
neten, sei also nichts als ein Gemeinplatz. Stöcker meint, daß die Liberalen 
von den Konservativen verlangen, sie sollen materielle Vorschläge  und Grund- 
sätze vorbringen, daß sie dabei aber selbst sich nur um formale Fragen drehen 
und den Kern der Sache umgehen. Die antisemitische Bewegung richte sich 
gegen das Kapital, das zur Untergrabung des christlichen Bewußtseins im 
Volke verwendet werde. 
22. Februar — 2. März. (Preußen.) Abg.-Haus: Be- 
ratung des Etats für Kultus und Unterricht: dieselbe ist eine sehr 
langatmige, indem die Ultramontanen alle ihre Beschwerden und 
Forderungen bez. des Kulturkampfs neuerdings erheben, ohne indes 
etwas neues beizubringen, und von allen Seiten zahlreiche Wünsche 
ausgesprochen werden, auf welche alle der Kultminister teils ab- 
lehnend, teils möglichst entgegenkommend antwortet. 
26. Februar. (Deutsches Reich.) Der Rücktritt des Kriegs- 
ministers v. Kameke ist nunmehr Thatsache. Das Bedauern darüber 
ist ein allgemeines, die Gründe dafür werden aber nicht bloß in den 
neuerlichen Reichstagsverhandlungen, sondern auch noch in anderen 
Verhältnissen gesucht. Irgend etwas Zuverlässiges verlautet jedoch 
in der Presse nicht. 
28. Februar. (Hamburg.) Bürgerschaft und Senat haben 
sich über das Zollanschlußprojekt und den dafür erforderlichen Kanal- 
bau geeinigt. Der Reichskanzler erklärt sich unter dem 14. März 
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