Full text: Europäischer Geschichtskalender. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1884. (25)

Das deuische Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 14.) 67 
linien nach Ostasien und Australien. Die Deutsch-Freisinnigen Bam- 
berger und Eug. Richter erklären sich dagegen als überflüssig. Der 
Reichskanzler, Staatssekretär Stephan und Meyer-Bremen antworten 
ihnen energisch. Das Zentrum schweigt, hilft aber den Radikalen, 
die Vorlage zunächst an die Budgetkommission zu weisen, was bei 
der Nähe des Sessionsschlusses einer Ablehnung fast gleichkommt. 
Aus der Debatte: Staatssekretär Stephan weist auf die über- 
wiegend freundliche Aufnahme hin, welche die Vorlage in der Presse und 
öffentlichen Meinung gefunden. Dieser Beifall entspringe der in den weitesten 
Kreisen herrschenden Uberzeugung, daß Deutschland an dem Welthandel und 
der überseeischen Politik nicht in dem Maaße beteiligt sei, wie es der Macht- 
stellung des Reichs entspreche. Mit der eigentlichen Kolonialpolitik stehe die 
Vorlage nicht in Verbindung; sie werde aber durch das nationale sowohl 
als das wirthschaftliche und handelspolitische Interesse empfohlen. Die Ab- 
hängigkeit von fremden Linien habe sich seit langer Zeit sehr empfindlich fühl- 
bar gemacht. Seiner Überzeugung nach werde Deutschland mit diesem Gesetz 
schon in zehn Jahren so große Vorteile erzielt haben, daß man nicht mehr 
begreifen könne, daß einst Opposition dagegen gemacht worden sei. Bam- 
berger (deutsch- freif.) wendet sich in sehr breiten Ausführungen gegen die 
Vorlage. In den Worten des Vorredners sowohl als in der Begründung 
des Gesetzentwurfes vermisse er sachliche Argumente, die durch leere Redens- 
arten und Phantasiegebilde ersetzt würden. Der einzige Gesichtspunkt, der 
der „Begründung“ geltend gemacht werde, seien Bemerkungen zweier ob- 
skurer französischer Zeitungen und der Hinweis auf die größeren Ausgaben 
anderer Länder für diesen Zweck, was zudem nur bei Frankreich zutreffe. 
Daß das Gesetz geeignet sei, den Waarenexport zu befördern, müsse er ent- 
schieden bezweifeln. Zum Mindesten würde dasselbe eben so sehr dem Im- 
port zu gut kommen und widerspreche damit geradezu dem herrschenden 
Wirtschaftssystem. Die bestehenden Dampferlinien genügten dem Verkehr 
vollkommen. Der Redner geht alsdann auf Grund eines sehr umfangreichen 
statistischen Materials auf unsere Handels- und Verkehrsbeziehungen mit 
Australien und Ostasien des näheren ein. Das Gesetz werde die freie Ent- 
wickelung unseres Handels und unserer Schiffahrt schädigen und zur end- 
lichen Verstaatlichung der Rhederei führen. Eugen Ri chter- Hagen weist 
auf die Finanzlage und die Interessen der Steuerzahler hin, welche so kost- 
spielige und zweifelhafte Experimente nicht gestatteten. Meier-Bremen, ohne 
Zweifel das sachverständigste Mitglied des Hauses, tritt dagegen warm für die 
Vorlage ein, die durch wichtige Handelsinteressen gerechtfertigt  sei. Nur 
vermöge solcher eigner nationaler Verbindungen werde  Deutschland im Stande 
sein, sich den gebührenden Anteil am Welthandel zu sichern. Die Ausgabe 
werde sich auch mit der Zeit sehr gut bezahlt machen. Uber die bestehenden 
Linien herrschten viele und gerechtfertigte Klagen. Nur auf die Forderung von 
Vorkehrungen, um die Dampfer für Kriegszwecke tauglich zu machen, möge 
man verzichten. Schließlich tritt der Reichskanzler für die Vorlage ein 
und den Ausführungen und Berechnungen Bambergers entschieden entgegen: Es 
sei freilich nicht möglich, zahlenmäßig zu berechnen und nachzuweisen, wie viel 
Vorteil Deutschland aus diesem Gesetz ziehen werde, allein die Teilnahme 
der Nation am Weltverkehr, die Beförderung des Exports, die Ausbild- 
ung unserer Marine seien doch wohl Gesichtspunkte, welche für die Vor- 
lage sprechen.  Mit dem Zweifel an der rechnungsmäßigen Rentabilität könne 
man die Berechtigung aller unserer nationalen Institutionen und des Reichs 
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