74 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 19—20.)
gestellt, während die Deutschfreisinnigen ihrer Zustimmung dazu wenigstens
kein Mäntelchen umhängen wollten.
Die Nordd. Allg. Ztg., zeichnet die Haltung der Radikalen in der
Kommission scharf aber nicht ungerecht folgendermaßen: „Die Debatte hatte
jedenfalls den Reiz der Neuheit. Insbesonderee gilt dies von den Aus-
führungen, in welchen die „Freisinnigen“ ihre Stellung zu den Kolonial-
fragen darlegten. In allen Tonarten versuchte Hr. Bamberger die Kolonial-
bestrebungen der Deutschen teils lächerlich zu machen, teils als gefährlich
und friedestörend hinzustellen. Seine ganze Rede trug die Signatur der
Demut, wenn nicht der Feigheit gegen das Ausland, und das Wort des
Kanzlers aus dem Jahre 1868, daß die Furcht im deutschen Herzen kein Echo
findet, trifft auf diese Fraktionsbestrebungen nicht mehr zu. Es sind frei-
lich auch 16 Jahre her. Bamberger schilderte in verächtlichen Farben alle
von Deutschen bisher seiner Auffassung nach versuchten Kolonialbestrebungen,
deren Ende in der Regel der Bankerott und der Bratspieß wilder Menschen-
fresser für die Beteiligten gewesen sei. Hauptsächlich aber fürchtet Hr.
Bamberger, daß wir mit stärkeren Seemächten dadurch in Konflikt geraten,
und er wünscht daher keine Schutzerweiterung für gewagte überseeische Unter-
nehmungen. Der Reichskanzler erwiderte ihm, „daß die natürliche Folge dieser
Auffassung der Zukunft der Deutschen als Seefahrer die sei, daß man gegen
jede Subvention unserer Dampferlinien stimme, und daß die Ablehnung
der jetzigen Vorlage sich nur als die logische Konsequenz der Bamberger'-
schen Auffassung des maritimen Berufs der Deutschen charakterisiere, die
dauach ihren Ehrgeiz nicht höher spannen dürften als vor 50 Jahren,
d. h. mit dem Hut in einer und einem guten Stück Geld in der anderen
Hand demütig ihre Wege unter Duldung anderer seefahrenden Nationen zu
suchen hätten.“ Der wiederholt und aufs lebhafteste geäußerte Wunsch des
Kanzlers, durch die Plenarabstimmung über die Postdampfervorlage seine
Politik zu Gunsten des Exports und seinen kolonialpolitischen Standpunkt
noch in der gegenwärtigen Session einer klaren Entscheidung des Reichstage
unterzogen zu sehen, wird durch den Widerstand der beiden Extreme, der
Radikalen aller Schattierungen und der Ultramontanen, die sich dazu die
Hand geben, vereitelt. Die Kommission faßt keinen endgültigen Beschluß
und die Dampfersubventionsvorlage geht unerledigt auf die nächste Session
des Reichstags über.
19. Juni. (Deutsches Reich.) Bundesrat: nimmt die Scholz'sche
Geschäftssteuer nach den wesentlich gemilderten Anträgen der Aus-
schüsse mit allen gegen die Stimmen der Hansestädte an.
19. Juni. (Elsaß-Lothringen.) Der Statthalter verfügt
die Ausweisung von zwei Sozialdemokraten und die Auflösung einer
Hilfskasse auf Grund des Diktaturparagraphen.
20. Juni. (Deutsches Reich.) Frühschoppen für die Reichs-
tagsmitglieder beim Reichskanzler. Das Hauptinteresse konzentriert
sich auf eine Unterhaltung des Kanzlers mit dem Abg. Gneist, aus
der ziemlich unzweideutig hervorzugehen scheint, daß er seine frühere
Verbindung mit den Nationalliberalen wieder anzuknüpfen geneigt
ist und zwar mit Bezug auf die bevorstehende Neuwahl des Reichs-
tags. Zu diesem Ende hin lehnt der Kanzler die Autorschaft des