Full text: Europäischer Geschichtskalender. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1884. (25)

Rußland. (Febr. 20 — April 7.) 367 
Indien führenden Straße betrachtet werden lann. losstenern zu können. Hier 
beginnt die eigentliche internationale Frage der neuesten russischen Acquisition 
in Zentralasien, der sich immer naher rückende Widerstreit zwischen den 
beiden Kolossen, die in Asien um die Herrschaft ringen. 
20. Februar. Um den eingeleitelen Anschluß an Deutschland 
noch enger und fester zu gestalten, wird Fürst Orloff, der bisherige 
russische Botschafter in Paris, der dem deutschen Reichskanzler per- 
sona gratissiman ist, zum Botschafter in Berlin ernannt. 
26. Februar. General Tschernajew wird als Gonverneur von 
Turkestan abberusen und durch General v. Nosenbach ersetzt. 
" Man hält in Petlersburg die Maßregel für sehr bedeutsam. Der be- 
kannte panflavistische General und dereinstige Oberkommandierende der serbi- 
schen Armec wollte sich die politische Nachfolgerschaft von Skobelew aneignen 
und bethätigte das durch die Selbständigleit seiner Handlungen. Man be- 
hauptet fest, daß General bichernaiem ohne Missen seiner Regierung in Bol- 
hara einrücken wollte, und dies soll der Grund seiner Abbernsung sein. Ob 
damit seine politische Nolle anegespielr. bleibt jedoch fraglich. Zu seinem 
Nachfolger ist der Stabschef des Petersburger Oberkommandos, General= 
Adjutant v. Nosenbach, einer der Vertreter der dentschfreundlichen Richtung, 
ernannt worden. General v. Nosenbach gilt für einen der jähigsten Ge- 
nerale und gelangt verhältnismäßig sehr früh — er steht erst in den Vier- 
igern — in eine so wichtige Stellung wie die des Gouverneners von Tur- 
kestan, jenem ungeheuren Ländergebiete, welche# Nußland in Zentralasien 
beherrscht und das mehr und mehr an politischer Bedeutung gewinnt. 
2. März. Der Kaiser siedelt wieder nach Gatschina über. 
7. März. Der wirkliche Mörder Sudejkins ist noch nicht in den 
Händen der Gewalt. Auf seine Entdeckung wird ein Preis ausgesetzt. 
7. April. Ein kaiserlicher Ukas überträgt den Bau aller 
strategischen Eisenbahnen dem Kriegsministerium. 
Die Eisenbahnen unterliegen in Rußland noch mehr als irgendwo 
sonft in Europa neben den wirtschaftlichen auch strategischen Gesichtspunkten. 
Die projektierten Eisenbahnlinien werden stets dem Gutachten militärischer 
Autoritäten unterworsen. Von diesem Standpunkte aus knüpft sich an die 
russischen Bahnen ein hervorragendes Interesse. Rußland arbeitet mächtig 
an der Entwicklung seines Eisenbahnnetzes: im Jahre 1843 verfügte Rußland 
über 27 km Eisenbahn, während England damals 4600 km hatte; 1803 
kamen auf Rußland 3387 km, auf England 18,580 km und 1883 schlieflich 
zeigt Nußland bereils 22,894, England 29,621 km. Nußland steht somit 
im Jahr 1883 in Europa nur hinter Deutschland, England und Frank- 
reich zurück. Die militärische Bedeutung dieses Fortschrittes ergibt sich erst 
recht, wenn man das Elend des Krimkrieges, die unüberwindlichen Schwierig- 
keiten der Fortbewegung der Truppen und Transporte von dazumal mit der 
Schnelligkeit und Sicherheit vergleicht, mit welcher während des rufsisch-türki- 
schen Krieges die Truppenmassen auf den Kriegsschauplatz und die Kranken 
und Verwundeten von demselben wieder in das Innere des Landes befördert 
wurden und mit welcher in der Gegenwart, je nach der politischen Strö- 
mung, Truppen in beunruhigender Weise an die preußische oder österreichische 
Grenze dirigiert werden können.