Full text: Europäischer Geschichtskalender. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1884. (25)

Die Inangriffnahme einer selbständigen Kolonialpolitik ist 
jür Deutschland ohne Zweifel das bedeutendste Ereignis des Jahres 
1884. Schon seit einer Reihe von Jahren hatte sich der Ruf 
nach dem Besitz eigener deutscher Kolonien immer allgemeiner und 
nachdrücklicher erhoben. Ist doch Deutschland neben England der 
größte Kulturstaat Europas und zugleich die Macht, welche schon seit 
langer Zeit, entsprechend ihrem jährlichen Vevölkerungsüberschuß, 
unter allen europäischen Mächten die größte Zahl von Kolonisten 
in ferne Weltgegenden aussandte, das eine Jahr etwas mehr, das 
andere etwas weniger. Dabei ging der große Strom der Aus- 
wanderer von jeher hauptsächlich nach Nordamerika und es ist 
nicht zu längnen, daß unsere Answanderer dort am leichtesten 
Gelegenheit fanden, sich ein neues Heim zu gründen. In neuester 
Zeit ist jedoch in Nordamerika infolge der Einführung eines un- 
sinnig übertriebenen Schutzzgollsystems eine wirtschaftliche Krisis 
ausgebrochen, die, wenigstens momentan, einem weiteren Zuströmen 
von Auswanderern, die früher mit offenen Armen empfangen wur- 
den, entgegensteht, so daß man der Einwanderung dort Hinder- 
nisse zu bereiten und Schranken zu setzen bemüht ist. Zudem 
konnte man sich nachgerade der Thatsache nicht verschließen, daß 
alle diese deutschen Auswanderer für Deutschland verloren gehen, 
indem sie in der zweiten oder dritten Generation fast unausweich- 
lich in dem englisch-amerikanischen Wesen Nordamerikas auf= und 
untergehen und nicht nur so ihre Nationalität vergessen und ver- 
lieren, sondern auch wirtschaftlich Deutschland eher nachteilig als 
nützlich werden, indem sie mithelfen, Deutschland Konkurrenz zu 
machen. Man hat dann vielfach seine Augen auf Südamerika 
gerichtet, soweit es klimatisch für deutsche Auswanderer überhaupt 
in Betracht kommt. Und allerdings liegen dort die Verhältnisse 
augenblicklich nicht ungünstig. Noch für längere Zeit könnten in 
Südamerika deutsche Kolonisten ihre Nationalität bewahren und 
pflegen, und auch wirtschaftlich dem deutschen Export manche För- 
derung vermitteln. Aber auf die Dauer würden auch dort fast 
unausweichlich dieselben Nachteile und Gefahren eintreten wie in
	        
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