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Nordamerika. Wohin sollte dann aber der im ganzen stets wach-
sende Strom der deutschen Auswanderer hingelenkt werden? Das
war die große und überaus schwierige Frage, vor der man stand.
Denn in der That, die Welt war verteilt. Wenigstens alle durch
Bodenverhältnisse und Klima für europäische Ansiedler geeignet
scheinenden Teile der übrigen Weltteile sind bereits, wenn auch
nur vorläufig durch die Seemächte, namentlich England, mit Be-
schlag belegt und was es noch nicht ist, ist kaum der Rede wert.
Deutschland hatte sich während der Zeit, da die Seemächte zu-
griffen, in kirchlichen Streitigkeiten abgearbeitet und war nachher
in eine solche Zersplitterung und Ohnmacht versunken, daß es
absolut nicht in der Lage war, über seine Grenzen hinauszugreifen,
geschweige denn mit den inzwischen großgewordenen Seemächten
zu wetteifern. Trotz der reichsten Fülle mannigfaltiger Kräfte,
die es umschloß, blieb es in kleinlichen Streitigkeiten befangen
und gelähmt und ging bei der thatsächlich in den letzten drei oder
vier Jahrhunderten erfolgten Verteilung der Welt leer aus.
Ingwischen hat sich aber nun bei uns eine Anderung voll-
gogen. Deutschland hat sich als machtvolle Einheit zusammen-
geschlossen, seine Selbständigkeit in Europa auf dem Schlachtfelde
erstritten und sich sogar rasch an die Spitze Europas geschwungen.
Jetzt ist es allerdings in der Lage, seine Blicke auch über Europa
hinaus zu richten und es war nur natürlich, daß alsbald auch die
Idee des Erwerbs von Kolonien bei uns auftauchte und nachdrücklich
Gehör verlangte. Lange Zeit schien indes der deutsche Reichskangler
davon nichts hören zu wollen, und doch lag es auf der Hand,
daß ohne dessen mächtige Unterstützung wenig oder nichts zu
machen war. Offenbar war Fürst Bismarck der Uberzengung,
daß das neue deutsche Reich erst in Europa fest begründet und
nach allen Seiten gesichert sein müsse, bevor im Ernste und mit
Aussicht auf Erfolg an den Erwerb von Kolonien gedacht werden
dürfe. England namentlich, die größte Kolonialmacht der Welt,
wiegte sich in der Hoffnung, daß es außerhalb Europas für seine
überwiegende Herrschaft, soweit es sie schon besaß und mit der
Zeit noch weiter ausgudehnen in seinem Interesse finden möchte,
nichts zu besorgen haben würde, am allerwenigsten von Deutsch-
land, zumal wenn es sich sorgfältig bemühe, den Zwiespalt zwi-
schen diesem und Frankreich zu nähren, um Deutschland gewisser-
maßen in den europäischen Kontinent zu bannen und so zugleich
auch Frankreich und seinen kolonialen Velleitäten, die ihm eben-
falls gar nicht paßten, einen Dämpfer aufzusetzen. Allein darin
irrte es sich und mußte eine gründliche Enttäuschung erleben.
Schon im Jahre 1883 ließ der deutsche Reichskanzler die Kolonial-