Full text: Europäischer Geschichtskalender. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1884. (25)

Uebersichl der polilischen Enlwichelung des Jahres 1881. 495 
wenig, aber doch ein fester Standpunkt, und zwar im Gegensatz 
gegen die neue Jusionspartei, die im ganzen radikalen Grundsätzen 
huldigte, gewonnen. Der Radikalismus der Deutsch-Freisinnigen as pa 
trat schon darin hervor, daß gleich der erste Punkt ihres Pro 
gramms die Erstellung veranlworklicher Neicheminister und damit Sßem. 
die Beseitigung des Reichskanglers in seiner bieherigen erzeptionellen 
Stellung und den Uebergang zum sog. parlamentarischen System 
forderte, also eine sehr wesentliche Veränderung der bestehenden Reichs- 
verfassung. Die Aufnahme dieser Forderung und zwar an die Spitze 
des Programms der neuen Partei war nicht ohne Vedeutung. Indes 
war es doch kein förmlicher Antrag und die nationalliberale Partei 
war daher vollsländig berechtigt, von derselben vorerst Umgang zu 
nehmen und ihre Stellung zu derselben sich vorzubehalten. Vorerst 
war es doch nur eine Forderung der sämtlichen radikalen Fraktionen 
von den Deulsch-Freisinnigen bis zu den Sogialdemokraten, also 
nur einer Minderheit des Reichslags; die Ultramontanen dürften 
sich in ihrem eigenem Interesse wohl hüten, dieselbe zu unter- 
stützen und die Freikonservativen und Konservativen sind voraus- 
sichtlich jedenfalls entschieden gegen den antimonarchischen Plan. 
Dagegen griff ihn der Bundesrat, vermutlich nach dem Grundsatze 
Drincipiis ohsta, seinerseits auf die Anregung von Sachsen und 
Württemberg auf und verlas Preußen in seiner Sihung vom 5. April 
eine geharnischte Erklärung gegen jeden Versuch der Einführung des 
parlamentarischen Systems, dem die Vertreter aller anderen Regie- 
rungen grundsätzlich beitraten. Dabei hatte es bezüglich dieser Frage 
für einmal sein Vewenden: solange der Neichskangler lebt, wird die 
Frage überhaupt wohl von keiner Seite Jur Entscheidung gecstellt 
werden wollen. Zunächst wurde sie schon durch die beginnende Agi- 
tation für die im Herbst bevorstehenden allgemeinen Neuwahlen zumTie Neu- 
Reichstag in den Hintergrund gedrängt. Alle Fraktionen bereiteten wahlen 
sich mit großem Eifer darauf vor, obwohl eine wesentliche Aenderung Nui#e5 
in der Zusammensetzung desselben kaum in Aussicht stand. Das ltag. 
wäre nur der Fall gewesen, wenn die nationalliberale Partei in 
der kurzen Zeit schon wieder soweit erslarkt wäre, um mit den Frei- 
konservativen und den gemäßigten Konservativen eine Majorität für 
den Reichskanzler gegen die Extreme von links und von rechts her- 
stellen zu können. Es war dies aber doch vorerst im höchsten Grade 
unwahrscheinlich, obgleich es der Reichskangler ohne Zweifel gewünscht 
hätte. Die Wahlen fanden am 28. Oktober statt und ergaben mit