Full text: Europäischer Geschichtskalender. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1884. (25)

Uebersichl der polilischen Ealwichrlung des Jahres 1884. 510 
Cholera, die sich von Frankreich trotz der rigorosesten Vorsichts- 
maßregeln dahin verpflanste und bald im Süden wie im Norden 
des Landes wütete, ärger als selbst in Frankreich. Am meisten litt 
darunter Neapel, wo Behörden und Bevölkerung darüber ganz den 
Kopf verloren und die Arme unthätig sinken ließen. Da beschloß 
der König, mutvoll und hochherzig, selbst dahin zu gehen und den 
gesunkenen Mut wieder aufzurichten. Er besuchte die Choleraspitäler 
und die Cholerakranken ohne alle Rücksicht auf seine Person und 
der Erfolg war ein vollständiger: der Mut kehrte allmählich zurück 
und der König leitete auch persönlich die notwendigen Maßregeln 
für die Zukunft ein. Seine Hingebung kam der Monarchie als 
solcher zugute. Vom Norden bis zum Süden war nur Eine Stimme 
der Anerkennung und Bewunderung, die ihren lautesten Ausdruck 
in Rom sand. Darüber war auch das Parlament einmütig. Im 
übrigen zeigt es freilich dieselbe Zerklüftung, wie schon seit Jahren. 
Doch erhielt sich Depretis während des ganzen Jahres als Minister- 
präsident am Ruder. Er ist der einzige Staatsmann, der die Ma- 
jorität der Kammer zusammenzuhalten vermag, wenn auch mit 
Mühe. Scheint sie ihm zu entgehen, so gibt er seine Demission ein 
und der König ist genötigt, ihm die Neubildung des Kabinetts doch 
wieder zu übertragen. Dann läßt er einige seiner Mitglieder fallen 
und ersetzt sie durch einige neue und die Krisis ist beendigt. Die 
sog. Pentarchen machen der Regierung eine faktiöse Opposition, haben 
aber keine Aussicht, erstere in ihre Hände zu bekommen. — Das große#ußland 
Ereignis in Nußland war die Wiederaussöhnung mit Deutschland, 
die Annäherung an Oesterreich und die Zusammenkunft der drei 
Kaiser in Skiernivice. Rußland konnte kaum Gelegenheiten geung 
finden, um das erneuerte enge Verhältnis zu Deutschland zum Aus- 
druck zu bringen und ließ sich auch willig zu einer freundschaftlichen 
Annäherung an Oesterreich herbei, was keine andere Bedeutung haben 
konnte, als daß es die Verhältnisse auf der Balkanhalbinfel, wie sie 
die Berliner Verträge geordnet hatten, seinerseits nicht zu stören 
beabsichtige. Die Wendung Rußlands bez. Deutschlands war auf- 
fallend rasch und merkwürdiger Weise war auch in der öffentlichen 
Meinung und in der Presse, die bisher gegen Deutschland sehr un- 
freundliche Gesinnungen an den Tag gelegt hatte, der Umschlag fast 
ebenso rasch. Beides klärte sich erst anfangs des folgenden Jahres 
auf: Rußland gab zunächst alle Absichten bez. des westlichen Europas 
auf, um dafür freie Hand in Zentralasien und gegen England zu
	        
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