Full text: Europäischer Geschichtskalender. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1884. (25)

46 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 5.) 
die verbündeten Regierungen auf die Festigkeit der unter ihnen geschlossenen 
Verträge bauen, würde Zweifel über die Zuverlässigkeit der Verträge herbei- 
führen, auf denen der Bund der deutschen Staaten beruht. Wenn solche 
Zweifel auch unter friedlichen Verhällnissen vielleicht keine für jedermann 
erkennbaren Gefahren im Gefolge haben, so würde doch in Zeiten politischer 
Krisen jede Abschwächung des Vertrauens auf die Sicherhet der Bundes- 
verträge von bedenklicher Wirkung sein können. Je mehr die Regierung 
Seiner Majestät des Königs sich bewußt ist, unter schweren Kämpfen und 
Gefahren erfolgreich dafür eingetreten zu sein, daß dem deutschen Volke das 
für seine nationale Geltung erforderliche Maß von Einheit gewonnen wurde, 
um so sorgfältiger ist sie darauf bedacht, zu verhüten, daß dieser Gewinn 
durch politische Mißgriffe wieder in Frage gestellt werde. Einen solchen 
Miigriff würde sie in jeder Überschreitung der Bedürfnisgrenze in unita- 
rischer Richtung erblicken. Die Einrichtung verantwortlicher Mi- 
nisterien im deutschen Reiche ist nicht anders möglich, als auf 
Kosten der Summe von vertragemäßigen Rechten, welche die 
verbündeten Regierungen gegenwärtig im Bundesrat üben. Die 
wesentlichsten Regierungsrechte der Bundesstaaten würden von einem Reichs- 
ministerium absorbiert werden, dessen Thätigkeit durch die Art der ihm 
auferlegten Verantwortlichleit dem maßgebenden Einflusse der jedesmaligen 
Majorität des Reichstags unterliegen müßte. Man wird nicht fehlgehen, 
wenn man in der von der neuen fortschrittlichen Partei erstrebten Einrich- 
tung eines solchen Ministeriums ein Mittel zur Unterwerfung der Re- 
gierungsgewalt im Reiche unter die Mehrheitsbeschlüsse des 
Reichstags erblickt. Die königlich preußische Regierung würde in einer 
derartigen Verschiebung des Schwerpunktes der Regierungsgewalt eine große 
Gefahr für die Dauer der neugeborenen Einheit Deutschlands erblicken. Selbst 
wenn es gelänge, feste Majoritäten aus den heute im Reichstag vorhandenen 
Parteien zu bilden, würde die königliche Regierung doch die Herstellung eines 
parlamentarischen Regiments für eine sichere Einleitung zum Verfall 
und zur Wiederauflösung des deutschen Reiches halten. Die Regierung eines 
großen Volkes durch die Mehrheit einer gewählten Versammlung ist untrenn- 
bar von all' den Schäden und Gefahren, an welchen ein jedes Wahlreich 
nach den Erfahrungen der Geschichte zu Grunde geht. Die Regierungsgewalt 
geübt von Parlamenten, welche aus allgemeinen Wahlen hervorgehen, unter- 
liegt derselben Gefahr, die Bedürfnisse des Landes dem Bedürfnisse des Ge- 
wähltwerdens unterzuordnen, durch welche bisher jedes Wahlreich seinem 
Verfall und seinem Untergange entgegengeführt worden ist. Der Gedanke an 
die Errichtung eines verantwortlichen Reichs- ministeriums, wie er nicht bloß 
in Gestalt eines Programms, sondern in den Verhandlungen des Reichstags 
von den Jahren 1869 und 1878 zu Tage getreten, ist deshalb nach der 
Überzeugung der Regierung überall da, wo er im Reichstag und bei den 
Wahlen geltend gemacht wird, im Interesse des Reichs, seiner Verfassung 
und der Sicherheit seines Fortbestandes zu bekämpfen, einmal weil er sich 
nicht verwirklichen läßt, ohne die vertragsmäßigen Rechte der 
Glieder des Reichs und das Vertrauen auf die Sicherheit der 
Bundesverträge zu schädigen, dann aber auch, weil er eines von 
den Mitteln bildet, durch welche der Schwerpunkt der Reichs- 
regierung in die wechselnden Majoritäten des Reichstags hin- 
übergeleitet werden soll, und weil diese Überleitung, wenn sie gelänge, 
die Wiederauflösung der deutschen Einheit nach der Überzeugung der Regie- 
rung im Gefolge haben würde." Bayern erklärt: „Die königlich bayerische 
Regierung befinde sich mit der Äußerung der königlich preußischen Regie- 
rung in vollkommenem Einverständnisse, und es sei in der Lage, sich jeder
	        
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