Full text: Europäischer Geschichtskalender. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1884. (25)

62 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Ende Mai — Juni 2.) 
Ende Mai. (Deutsches Reich.) Der Kaiser, dessen Gesund- 
heitszustände in letzter Zeit nicht ganz befriedigend waren, gibt, nach- 
dem er die Abreise nach Wiesbaden wiederholt hat verschieben müssen, 
den gewohnten Aufenthalt daselbst ganz auf. Die dahin voraus- 
gesandten Wagen, Pferde und Dienerschaft sind bereits wieder nach 
Berlin zurückgekehrt. Doch hat der Kaiser die große, glänzende 
Frühjahrsparade der Berliner und Spandauer Gardetruppen auf 
dem Tempelhofer Felde zu Pferde am 29. d. M. wie bisher ab- 
nehmen können. 
— Mai. (Preußen.) Die Unterhandlungen mit dem Vatikan 
scheinen wieder einmal total ins Stocken geraten zu sein. 
Die Sprache der offiziösen Organe des Vatikans lassen darüber kaum 
einen Zweifel. Preußen verlangte die Beseitigung und Ersetzung Ledóchowski's 
in Posen und wünschte die Entfernung des intriganten Kardinals aus dem 
Vatikan. Dem letzteren Wunsche hat der Papst entsprochen und würde allen- 
falls auch dem ersteren Begehren die Hand reichen, aber nur gegen viel 
schwerer wiegende Konzessionen Preußens. Der Papst fordert freie Hand 
bez. der Erziehung und Vorbildung der preußischen Kleriker und diese will 
Preußen wenigstens in dem geforderten Umfange, wie es scheint, nicht zur 
gestehen. Ledóchowski hat daher nach seiner Ernennung zum Sekretär 
Bittschriften, einem wirklichen Kurienamt, das seine Anwesenheit in Nom 
bedingt und seine Rückkehr nach Posen stillschweigend ausschließt, dem Papst 
seine Demission als Erzbischof von Posen zugestellt, dieser aber sie nicht an- 
genommen. 
Anf. Juni. (Deutsches Reich.) Den Liebenswürdigkeiten, 
welche seit einiger Zeit zwischen den Höfen von Berlin und Peters- 
burg ausgetauscht werden, gehen Akte der Verbrüderung zwischen 
dem russischen und deutschen Heere an der deutsch-russischen Grenze 
zur Seite. 
2. Juni. (Mecklenburg.) Der im J. 1858 auf ein Kon- 
sistorialgutachten wegen angeblicher Ketzereien als Professor der Theo- 
logie in Rostock abgesetzte Dr. Baumgarten verlangt in einer Ein- 
gabe an den neuen Großherzog eine Revision der damaligen Maßregel, 
indem er an die Gerechtigkeit seines neuen Landesherrn appelliert. 
Der so schwer gemaßregelte Gelehrte sagt in seiner Eingabe: „In dem 
am 15. September 1857 vor drei Professoren der Landesuniversität unter- 
zeichneten Konsistorialerachten bin ich auf 14 Druckbogen aller nur möglichen 
und unmöglichen grundstürzenden Ketzereien und anderweitiger moralischer 
Schandbarkeiten beschuldigt worden. Anf Grund dieses Konsistorialerachtens 
bin ich plötzlich ohne Gehör und Verantwortung durch großherzogl. Reskript 
vom 6. Jannar 1838 als grundstürzender Ketzer und als meineidiger poli- 
tischer Agitator meines Amtes entsetzt, zwar mit Beibehaltung meines Ge- 
haltes, jedoch unter der Bedingung. des Wohlverhaltens. Den Gerechtigkeits- 
sinn des sel. Großh. Friedrich Franz  II. verdanke ich es, daß das genannte, 
im Finstern entstandene und für die Finsternis berechnete Konsistorialerachten 
aus Licht gekommen ist. Sobald dieses Aktenstück veröffentlicht war, ist es 
 
	        
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