100 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 30.—31.)
Vaterlande seit dem dreißigjährigen Krieg erblühte religiöse Aufklärung und
sittliche Bildung im Hinblick auf den jeder idealeren Lebensauffassung feind-
lichen Materialismus unserer Tage, der Mitwirkung an einer künstlichen
Wiedererweckung und Verschärfung der altkonfessionellen Gegensätze und des
Streites zwischen Wissenschaft und Christenglauben entsage, und anstatt an
der geistigen Verhetzung der Nation, an einer ehrlichen Versöhnung derselben
auf dem Boden einfacher und echt christlicher Frömmigkeit, verständiger
Bildung und patriotischer Pflichterfüllung mitarbeite und so mithelfe, daß
die christliche Kirche nicht mit äußerlichen Mitteln und allerlei politischen
Künsten eine militärisch organisierte irdische Weltmacht zu werden suche,
sondern es als ihre wahre Aufgabe erkenne, durch die geistige Macht des
göttlichen Wortes in Demut und Liebe die Menschen zu bessern und zu be-
seeligen.
30. Mai. (Doppelwährung.) In dem Antwortschreiben
auf eine Dankadresse der thüringischen Bauernversammlung erklärt
der Reichskanzler: „Die Frage der Einführung der Doppelwährung
unterliege zur Zeit der Prüfung seitens der zuständigen Behörden."
31. Mai. (Polen-Ausweisungen.) Die Ausweisung nicht-
preußischer Polen aus den Ostprovinzen wird von der „Nordd. Allg.
Ztg.“ auch aus volkswirtschaftlichen Gründen gerechtfertigt.
Das Blatt schreibt: „Die oberschlesischen Gruben- und Hüttenarbeiter
haben an den Reichskanzler eine Petition gerichtet, in welcher sie den dringen-
den Wunsch aussprechen, von der Konkurrenz der russisch-polnischen Arbeiter
befreit zu werden, welche täglich über die Grenze kommen und in preußischen
Bergwerken Arbeit erhalten. Die Petenten protestieren gegen die freie Zu-
lassung dieser Leute, die in Rußland wohlfeiler leben, als der preußische
Arbeiter, weniger Abgaben zu tragen haben und folgeweise für einen ge-
ringeren Lohn zu arbeiten in der Lage sind. Unseres Erachtens ist diese
Klage völlig begründet. In der Konsequenz unserer Wirtschaftspolitik liegt
es, daß derartigen Einbrüchen fremder Arbeiter in den Arbeitsmarkt vorge-
beugt, daß die nationale Arbeit gegen die unter bevorzugten Bedingungen
auftretende ausländische Konkurrenz geschützt werde, und schon mit Rücksicht
hierauf begrüßen wir die neuerdings von der preußischen Regierung verfüg-
ten Ausweisungen russischer Staatsangehöriger als eine heilsame Maßregel.
Allerdings sehen wir ihren Hauptwert darin, daß sie der polnisch ultramon-
tanen Propaganda einen Riegel vorschiebt. Es mag sein, daß einige Groß-
industrielle und Großgrundbesitzer dadurch in dem Bezug von Arbeitskräften
beschränkt werden; dem allgemeinen politischen Interesse gegenüber kann in-
deß diese Erwägung nicht ins Gewicht fallen."
Ende Mai. (Zanzibar.) Infolge des Einrückens von Truppen
des Sultans von Zanzibar in Gebiete, welche von der „Gesellschaft
für deutsche Kolonisation“ unter den Schutz des deutschen Reiches
gestellt sind, wird die möglichst schleunige Zusammenziehung eines
Geschwaders an der Ostküste von Afrika angeordnet.
Über den Zweck der Entsendung des Geschwaders schreibt die „Nordd.
Allg. Ztg.“ in einem gegen den englischen „Standard“ polemisierenden Ar-
tikel: Der Artikel böte mancherlei Anlaß zur Polemik; wir wollen uns aber
darauf beschränken, dem „Standard“ zu sagen, daß Deutschland sich mit
Plänen gegen die Unabhängigkeit des Sultans von Zanzibar nicht trägt.