Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Erster Jahrgang. 1885. (26)

 
Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 2.) 101 
Das Reich hat vor einem halben Jahr einen Vertreter nach Zanzibar ge- 
sandt, um die Beziehungen mit dem Sultan durch den Abschluß eines Freund- 
schafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages zu befestigen und zu erweitern. 
Hiezu kam später die aus den Beschlüssen der Berliner Konferenz sich er- 
gebende Aufgabe für den deutschen Vertreter, gemeinsam mit den Vertretern 
der anderen Konferenzmächte auf Erleichterungen des Transithandels mit dem 
ostafrikanischen Festlande durch die unter der Herrschaft des Sultans von 
Zanzibar stehenden Küstenstriche hinzuwirken. Den Sultan von Zanzibar 
durch Gewaltmaßregeln zum Abschluß eines Handelsvertrages zwingen zu 
wollen, liegt unserer Regierung jedenfalls fern. Der Sultan hat vielmehr 
seinerseits rechtlich unbegründete Ansprüche auf die Gebiete erhoben, welche 
von der deutsch-ostafrikanischen Gesellschaft durch Verträge mit den eingebornen 
unabhängigen Fürsten erworben sind und ist sogar dazu übergegangen, Truppen 
in diese unter den Schutz des Kaisers gestellten Gebiete rechtswidrig einrücken 
zu lassen. Neuerdings hat er sich angeschickt, in gleicher Weise gegen den 
Sultan von Witu vorzugehen, der ebenso unabhängig ist wie der von Zanzi- 
bar, und der sich vertragsmäßig unter den Schutz des Kaisers gestellt und 
Angehörigen des Reiches Land abgetreten hat. Unmittelbar nach dem Be- 
kanntwerden dieses Vertrages hat der Sultan von Zanzibar eine Expedition 
von 600 Mann mit einigen Geschützen nach der Lamu-Bai vor Witu gesandt. 
Das in dem Delta der Flüsse Tana und Osi belegene Witu-Reich ist nach 
wechselvollen Kämpfen mit arabischen Häuptlingen von Oman und Zanzibar 
durch den Sultan Simba den Löwen, dessen Familie eine der ältesten und 
mächtigsten an der Suaheli-Küste ist, begründet worden. Mit dem Witu- 
Reich aber steht Deutschland schon seit 1867 in freundschaftlichen Beziehungen, 
welche durch den Reisenden Richard Brenner angeknüpft worden sind. Schon 
anfangs 1867 berichtete Brenner nach Berlin, daß der Sultan mit der könig- 
lich preußischen Regierung einen Schutz- und Freundschafts-Vertrag abzu- 
schließen wünsche. Der Sultan verpflichtete sich im voraus, den preußischen 
Unterthanen, welche sich in seinem Lande ansiedeln wollen, beliebiges Terrain 
zu überlassen und volle Handelsfreiheit, insbesondere auch Befreiung von 
jedem Durchgangszoll nach den angrenzenden Pokomo- und Galla-Ländern, 
zu gewähren. Die damals begründeten Beziehungen sind seitdem aufrecht- 
erhalten und enger geknüpft worden. Durch den jetzt abgeschlossenen Vertrag 
ist der Sultan von Witu rechtlich und thatsächlich der Freund und Verbün- 
dete des deutschen Reiches geworden. Der Sultan von Zanzibar aber hat 
die Mitteilung von dem Abschluß dieses Vertrages durch militärische Maß- 
regeln gegen den Sultan von Witu beantwortet. Es ist zu hoffen, daß der 
auch in dem „Standard“ festgestellte englische Einfluß in Zanzibar dazu bei- 
tragen wird, den Sultan rechtzeitig zum Einlenken aus der Bahn der Heraus- 
foderung zu vermögen, die er dem deutschen Reiche und seinen Angehörigen 
gegenüber betreten hat. 
2. Juni. (Zanzibar.) Der Reichskanzler legt in einer 
Depesche an den deutschen Botschafter in London die Ziele der Ex- 
pedition nach Zanzibar dar. 
Er spricht die Hoffnung aus, daß es durch eine gemeinschaftliche diplo- 
matische Aktion Englands und Deutschlands gelingen werde, den Sultan zum 
Verzicht auf die seine bisherigen Grenzen überschreitenden Ansprüche zu bewegen 
und dadurch eine gewaltsame Zurückweisung der Feindseligkeiten des Sultans 
gegen das deutsche Protektorat überflüssig zu machen. Deutschland habe nicht die 
Absicht, der Unabhängigkeit des Sultans irgendwelche dauernde Beschränkungen 
aufzuerlegen oder die Herausgabe von Gebietsteilen, welche ihm unzweifelhaft
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.