Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Erster Jahrgang. 1885. (26)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 30.) 109 
Über die näheren Umstände, unter welchen der Brief des Herzogs von 
Cumberland entstanden ist, macht der „Hann. Kour.“ folgende Angaben: 
Vor Beginn des Berliner Kongresses, ehe Lord Beaconsfield nach 
Berlin abreiste, verabsäumte die Königin Viktoria nicht, ihrem ersten Minister 
zu eröffnen, wie sehr es ihr am Herzen liege, einen Ausgleich zwischen 
Preußen und dem Hause Hannover herbeigeführt zu sehen, und ihn zu 
bitten, über die Anbahnung eines solchen Ausgleiches mit dem deutschen 
Reichskanzler zu beraten. Lord Beaconsfield mochte finden, daß das britische 
Staatsinteresse, für welches er den Kanzler auf dem Kongreß mehrfach in 
Anspruch zu nehmen gedachte, möglicherweise Schaden nehmen könnte, falls 
vom Fürsten Bismarck eine Interpellation wegen Braunschweig-Hannover 
unliebsam vermerkt werden sollte. Der englische Premier ließ deshalb den 
Kanzler zuvor durch eine Vertrauensperson beiläufig befragen, ob ihm eine 
solche Besprechung überhaupt gelegen sei, worauf Fürst Bismarck bereitwillig 
erklärte, mit Lord Beaconsfield recht gern auch diese Angelegenheit erörtern 
zu wollen. Der Lord trug demnächst dem Kanzler die Wünsche der Königin 
Viktoria rückhaltslos vor und erhielt die loyale Antwort, daß der Thron- 
besteigung des Herzogs von Cumberland in Braunschweig zur Zeit durchaus 
nichts im Wege stehe, sofern derselbe einen in aller Form offenen, bindenden 
Verzicht auf Hannover aussprechen und die Zusage erteilen wolle, niemals 
in Braunschweig welfische Restaurationsbestrebungen dulden, denselben viel- 
mehr mit der einem deutschen Bundesfürsten pflichtmäßigen unnachsichtlichen 
Schärfe entgegentreten zu wollen, wo immer sich ein Herd solcher Bestrebungen 
anzusetzen im Begriff sei. Lord Beaconsfield übermittelte die Antwort des 
Reichskanzlers der Königin, und diese, sowie alle Mitglieder der englischen 
Königsfamilie waren der Ansicht, daß der Herzog von Cumberland, wie er 
dies der Königin selbst in Aussicht gestellt hatte, die von Preußen, bezw. 
dem Reiche geforderten Garantien unbedingt geben könne und solle; auch 
zweifelte damals kein Mitglied des englischen Königshauses, daß der Herzog 
von Cumberland dieselben in der verlangten Form geben werde. 
In dieser Voraussetzung und ihren Wunsch angelegentlich empfehlend, 
schrieb die Königin Viktoria an den Herzog von Cumberland. Der vom 
Staatsminister Grafen Görtz-Wrisberg auszugsweise bekannt gegebene Brief 
ist die Antwort des Herzogs, die im Kreise der englischen Verwandtschaft 
desselben eine so tiefgreifende Verstimmung erzeugte, daß seitdem von London 
aus nicht die geringste Bemühung zu Gunsten des Herzogs von Cumberland 
mehr stattgefunden hat. — 
Infolge der Bekanntmachung dieses Briefes gibt ein Teil der Presse, 
welche bisher die Ansprüche des Herzogs von Cumberland unterstützte, dem- 
selben preis. So schreibt die „Kreuzzeitung“: „Durch dieses Schreiben sind 
die thatsächlichen Verhältnisse durchaus verschoben; der Herzog wird nie ver- 
zichten, und wenn er es jetzt dennoch thäte, würde die Aufrichtigkeit seiner 
Entsagung keinen Glauben mehr finden.“ Auch der „Westfälische Merkur“ 
verurteilt das Verfahren des Herzogs: „Der Eindruck ist um so mißlicher, 
als die Form des Doppelbriefes vom gleichen Datum gewählt worden ist, 
hinter welcher Form man sicher eine große Berechnung suchen wird. Wir 
wollen mit einem definitiven Urteil zurückhalten, bis die ganzen Akten vor- 
liegen. Aber wir können schon jetzt nicht leugnen, daß die Art des Vor- 
gehens, soweit sie bis jetzt bekannt ist, uns nicht gefällt. Ein offenes, mann- 
haftes Vertreten der wirklichen oder vermeintlichen Rechte bleibt imposant 
auch im größten Unglück; aber diplomatische Kunstgriffe, wie sie in der 
Vereinbarung des Anspruchs auf Hannover mit der feierlichen Anerkennung 
der Reichsverfassung vorzuliegen scheinen, können nur dann imponieren, 
wenn der Erfolg sie verschönt.“ Nur die „Germania“ und einige ultra-
	        
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