Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juli 2.) 113
2. Juli. (Braunschweig.) Bundesrat: nimmt den preußi-
schen Antrag über die braunschweigische Thronfolge in folgender vom
Justizausschuß empfohlenen Fassung an:
„Die Überzeugung der verbündeten Regierungen dahin auszusprechen,
daß die Regierung des Herzogs von Cumberland in Braunschweig, da der-
selbe sich in einem dem reichsverfassungsgemäß gewährleisteten Frieden unter
Bundesgliedern widerstreitenden Verhältnisse zu dem Bundesstaate Preußen
befindet und im Hinblicke auf die von ihm geltend gemachten Ansprüche auf
Gebietsteile dieses Bundesstaates, mit den Grundprinzipien der Bündnisver-
träge und der Reichsverfassung nicht vereinbar sei.“ Gegen den Antrag stim-
men Mecklenburg-Strelitz und Reuß ä. L., Braunschweig und Oldenburg
enthalten sich der Abstimmung. Der Bevollmächtigte von Mecklenburg-
Strelitz motiviert seine Abstimmung folgendermaßen: „Die Abgabe einer dem
Antrage Preußens entsprechenden Erklärung seitens des Bundesrats und die
Notifikation derselben an die braunschweigische Landesregierung würde nach
Ansicht der großherzoglichen Regierung nicht ohne einen mit der Verfassung
des Deutschen Reichs und dem deutschen Fürstenrecht unvereinbaren Eingriff
in die in einem Bundesstaate bestehende Thronfolge möglich sein. Aus dieser
Erwägung befindet die großherzogliche Regierung sich nicht in der Lage, dem
Antrage zuzustimmen und enthält sich daher einer Erklärung darüber, ob die
demselben zu Grunde liegende ausdehnende Interpretation des Artikels 76
der Reichsverfassung als dem Geiste dieser letzteren entsprechend anzusehen ist.
Die großherzogliche Regierung kann ferner nicht umhin, auszusprechen, daß,
nachdem Se. kgl. Hoheit der Herzog von Cumberland durch das Besitzer-
reifungspatent, d. d. Gmunden, 18. Oktbr. 1884, die Zusicherung erteilt
hat, die Regierung des Herzogtums Braunschweig nach Maßgabe der Ver-
fassung des Deutschen Reiches, sowie der Landesverfassung, führen zu wollen,
der Bundesrat ihrer Überzeugung nach keine Veranlassung hat, der thatsäch-
lichen Ausübung der Regierungsgewalt seitens Höchstdesselben entgegenzu-
treten. Erst wenn der Regierungsantritt des Herzogs wider Verhoffen
Streitigkeiten zwischen den Bundesstaaten Preußen und Braunschweig her-
beiführen sollte, würde zur Erledigung derselben auf Anrufung des einen
oder anderen Teiles nach Art. 76 der Reichsverfassung der Bundesrat be-
rufen sein.“ Der Bevollmächtigte für Reuß ä. L. erklärt, daß er namens
der von ihm vertretenen Regierung im wesentlichen aus denselben Gründen,
welche der Bevollmächtigte für Mecklenburg-Strelitz verlautbart, gegen den
Antrag stimme. Die Stimmenthaltung Oldenburgs wird durch folgende Er-
klärung begründet: „Die großherzoglich oldenburgische Regierung würde in
Anbetracht der Wichtigkeit des Gegenstandes eine schriftliche Berichterstattung
des Ausschusses gewünscht haben und enthält sich der Abstimmung, weil nach
ihrer Auffassung in Ermangelung einer solchen Grundlage die rechtliche und
politische Tragweite der zu fassenden Entschließungen sich nicht mit genügen-
der Sicherheit beurteilen läßt.“
Die veränderte Fassung entspricht dem einstimmig also unter Zu-
stimmung Preußens beschlossenen Vorschlage des Justiz-Ausschusses. Die
„National-Zeitung“ bemerkt dazu: „Man kann unseres Erachtens in der Ab-
änderung nur eine Verschärfung, weil eine unanfechtbarere Formulierung er-
blicken. Außerdem ist in die Erklärung selbst der Grundgedanke der Moti-
vierung des preußischen Antrags aufgenommen worden; diese beruhte darauf,
daß der Herzog von Cumberland sich in einem „ideellen Kriegszustande" mit
Preußen befinde, da er fortfahre, sich als Prätendent auf preußische Gebiets-
teile zu gerieren. Dies ist in dem Beschluß selbst ausdrücklich konstatiert,
indem statt „ideeller Kriegszustand“ gesagt ist: „ein dem reichsverfassungs-
Europ. Geschichtskalender. XXVI. Bd. 8