Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Erster Jahrgang. 1885. (26)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezbr. 10.—14.) 159 
Reichsverfassung zu fassen, wie folgt: „Die Legislaturperiode des Reichstages 
dauert zwei Jahre. Eine Auflösung desselben kann nicht stattfinden." 
Für den Antrag Helldorf sprechen die beiden konservativen Fraktionen 
und die Nationalliberalen; gegen denselben die Freisinnigen; der Abgeordnete 
Windthorst erklärt sich „unter den jetzigen abnormen Zuständen“ gegen jede 
Verfassungsveränderung, wenn er sich auch zu andern Zeiten und unter an- 
dern Verhältnissen für 4jährige Legislaturperioden ausgesprochen habe. — 
Die Regierung beteiligt sich nicht an der Debatte. 
10. Dezember. (Hannover.) Bei der Neuwahl von 8 Bürger- 
vorstehern der Stadt Hannover verlieren die Welfe 4 Sitze an die 
Nationalliberalen, so daß beide Parteien in der Stadtvertretung 
gleich stark werden (jede 12 Stimmen). 
11.—14. Dezember. (Reichsetat.) Reichstag: Zweite Lesung 
des Etats des Reichsamts des Innern. 
Die Debatte berührt u. A. die Notwendigkeit der Vermehrung der 
Fabrik-Inspektoren, die Verwaltungskosten der Unfallberufsgenossenschaften, 
das Bedürfnis eines Gesetzes über das Auswanderungswesen, die Aufhebung 
des v. d. Heydt'schen Erlasses gegen die Auswanderung nach Brasilien. 
Staatssekretär v. Bötticher motiviert die Zurückhaltung der Regierung gegen- 
über der für 1888 in Berlin geplanten nationalen Ausstellung: bei der Ab- 
neigung der Großindustriellen gegen die Ausstellung könne die Regierung 
nur eine abwartende Haltung einnehmen; komme die Ausstellung zustande, 
so werde sie dieselbe Unterstützung wie jede Ausstellung von der Regierung 
finden. Bei dem Kapitel „Dampfersubvention“ teilt der Staatssekretär mit, 
daß vorläufig auf 1 Jahr Antwerpen zum Anlaufshafen bestimmt sei. 
In der Sitzung vom 14. Dezember kommen die Fragen der obliga- 
torischen Leichenschau, das Verhalten der Ärzte gegenüber den Krankenkassen, 
Verbot der Surrogate bei der Bierbereitung, Weinfälschung, Feuerbestattung, 
Schließung einer sozialdemokratischen Druckerei in Breslau, Revision des 
Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz zur Sprache. Auf eine Anfrage, 
betreffend die Errichtung von Landesversicherungsämtern erklärt der Staats- 
sekretär v. Bötticher, daß vor der Hand nur in Sachsen und Bayern die 
Schaffung von Versicherungsämtern in Aussicht genommen sei; die Kompetenz 
derselben werde aber eine sehr beschränkte sein, da sich unter den 57 bestehen- 
den Unfallgenossenschaften nur 5 befänden, welche sich nicht über das Teri- 
torium eines einzelnen Bundesstaates hinaus erstreckten. 
14. Dezember. (Nord-Ostsee-Kanal.) Dem Reichstag 
geht der Entwurf eines Gesetzes, betr. die Herstellung des Nord- 
Ostsee-Kanals, zu. 
Der Bau soll 156 Millionen Mark kosten, wovon 50 Millionen Mark 
zum voraus von Preußen, der Rest vom Reich bestritten werden soll. Die 
Begründung stellt das militärische Interesse in den Vordergrund, die Siche- 
rung des Zusammenwirkens der in den beiden Meeren stationierten Kriegs- 
schiffe und damit einer wirksamen Verteidigung der deutschen Seeküsten. 
Daneben aber kommen bedeutende wirtschaftliche Interessen in Frage, welche 
durch die sehr erhebliche Abkürzung des gefährlichen Seewegs zwischen der 
Ostsee und der Nordsee um das Cap Skagen gefördert werden. Es wird be- 
rechnet, daß die Zahl derjenigen Handelsschiffe, welche den Canal benutzen 
werden, etwa 18 000 mit 5500 000 Registertonnen Raumgehalt betragen 
wird. Da eine Abgabe von 75 für die Registertonne von den den Canal
	        
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