Die Gesterreichish-Angatishe Menarchie. (Juni 1.) 199
nur durch naturgemäße Entwicklung des Rechtes der Selbstbestimmung,
welches allen natürlich gegebenen Faktoren des Staatslebens zuerkannt wer—
den muß, die wahre Freiheit erblühen kann, keineswegs aber aus der schran—
kenlosen Stärkung eines allmächtigen, alle Selbstthätigkeit des Staatebürgers
erstickenden, alles verzehrenden Bureaukratismus. Die Verständigung mit
unseren deutschen Landsleuten auf der Basis einer beiden Volksstämmen loyal
zuerkannten und verfassungsmäßig gesicherten Gleichberechtigung werden wir
nie aufhören, aufrichtig anzustreben. Jederzeit werden sie uns zu Verhand-
lungen mit ihnen und zu brüderlicher Verständigung bereit finden, und wir
werden nicht aufhören, darauf zu hoffen, sobald die eben hervorgerufene
Aufregung ausgetobt haben, und auf allen Seiten die klare Erkenntnis er-
stehen wird, daß wir als Söhne eines Vaterlandes, die wir durch Tausende
von Banden, ja durch die Natur selbst verbunden sind, auch nur in der
Einheit und in gegenseitiger Rechtsachtung zu Frieden und zu allseitiger
Wohlfahrt gelangen können. Mit Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse des
praktischen Lebens und der staatlichen Administration haben wir stets ohne
jeden Zwang der deutschen Sprache wichtige Konzessionen gemacht und machen
sie noch; aber das können wir nimmermehr zulassen, daß durch Privilegie-
rung einer Sprache das Prinzip des gleichen Rechtes aller Volksstämme selbst
negiert werde, wenn wir der eigenen Ehre und der Würde der böhmischen
Nation nicht vergessen wollen. Das mögen unsere deutschen Landsleute uns
nicht zumuten, wenn sie nicht die durch die Verfassung grundgesetzlich ver-
bürgte nationale Gleichberechtigung entwurzeln, unser Rechtsgefühl nicht
schmerzhaft verletzen, und mit der flavischen Mehrheit des Reiches nicht einen
endlosen, dem Staate verderblichen Streit heraufbeschwören wollen.“
Die „Neue freie Presse“ beurteilt den Aufruf folgendermaßen: „Der
czechische Wahlaufruf singt wieder das alte Lied von der „Verständigung mit
den Deutschen“. Es ist die Wiederholung der alten Heuchelei, denn in dem-
selben Satze wird die deutsche Staatssprache als eine Verletzung der Ehre
und Würde der czechischen Nation schroff abgelehnt und wird das Oktober-
Diplom wieder zum staatsrechtlichen Schiboleth erhoben. Die Ehre und
Würde der czechischen Nation oder das, was die czechischen Vertrauensmänner
dafür auszugeben belieben, wird über die Postulate des staatlichen Lebens
gestellt und die föderalistische Dekomponierung des Staates als Programm
verkündet. Heute bereits spricht der czechische Wahlaufruf von der flawischen
Mehrheit des Reiches; über ein kurzes und von Prag aus wird man prokla-
mieren, daß ÖOsterreich-Ungarn ein flawisches Reich sei.“ Von der Regie-
rungspresse dagegen wird der Aufruf als „frei von allem Chauvinismus“
belobt und als Zeugnis für die große Wandlung hingestellt, welche sich in
den letzten Jahren im czechischen Lager vollzogen habe. Er betone ja nur
das Festhalten an jener Autonomie, welche in der Verfassung begründet und
mit der Einheit und Machtstellung des Reiches vereinbarlich sei.
1. Juni. Bei der Reichsratswahl in Wien verliert die
deutsch-liberale Partei von den 12 Wiener Mandaten 3 an die
Demokraten, 1 an die Antisemiten. (Vgl. Mitte Juni.)
Gewählt werden von Männern der deutsch-liberalen Partei im I. Be-
zirke Herbst, Kopp, Weitlof und Jaques, im II. Bezirke Professor Eduard
Sueß, auf der Landstraße Dr. Guido Frhr. v. Sommaruga, auf der Wieden
Matscheko und im IX. Bezirke der liberale Kandidat Wrabetz. „Die neuge-
wählten Abgeordneten Lueger, Kronawetter und Kreuzig repräsentieren,“ sagt
die „Deutsche Ztg.“, „drei verschiedene Schattierungen der Wiener Demokratie,
die bekanntlich mit dem System des Grafen Taaffe stark liebäugelt. Lueger