Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Erster Jahrgang. 1885. (26)

222 Die Oesterreithish·Ungarische Monarihie. (Oktober 19.) 
Wie vermag die Regierung ihre bisherige Unterlassung der Gewäh— 
rung eines ausreichenden Schutzes der Deutschen in Böhmen zu rechtfertigen 
und welche Haltung will sie künftighin gegenüber den seit sechs Jahren ent- 
fesselten nationalen Kämpfen in Böhmen und der immer mehr bedrohten 
Stellung der Deutschen in diesem Lande einnehmen?"“ 
Die zweite von dem Abg. Rieger u. Gen. eingebrachte Interpellation 
betrifft die einzelnen vorgefallenen Exzesse. 
Der Ministerpräsident Graf Taaffe erwidert, daß die Regierung die 
Ausschreitungen auf das tiefste bedauere und auf das schärfste mißbillige, es 
sei aber unmöglich, die einzelnen Exzesse vorherzusehen und Präventivmaß- 
regeln zu treffen. Die Behörden hätten aber in jedem Falle sofort ihre 
Schuldigkeit gethan, die Ermittelung und Bestrafung der Schuldigen veran- 
laßt und alles vorgekehrt, um eine Wiederholung ähnlicher Vorkommnisse 
für die Zukunft zu verhindern. Die Regierung weise daher die in der In- 
terpellations-Frage der Abgeordneten Plener, Peilsberg und Genossen gelegene 
Behauptung, daß sie eine Unterlassung der Gewährung eines ausreichenden 
Schutzes der Deutschen in Böhmen zu rechtfertigen habe, mit aller Entschie- 
denheit zurück. Die Regierung müsse ferner die in derselben Interpellation 
enthaltene, jedes Zusammenhanges mit den jüngsten Ausschreitungen in 
Böhmen entbehrende Behauptung, daß ein Eindringen des Nationalitäten- 
Hehers in die Armee zutage getreten sei, als vollständig unbegründet be- 
zeichnen. 
Ein Antrag auf Besprechung der Interpellation wird nicht gestellt, 
die deutschen Redner benutzen jedoch die anschließende Adreßdebatte, um die 
Ausführurgen des Ministers zu bekämpfen. Besonderes Auseesen macht die 
Rede des Abg. Knotz (vom deutschen Klub). Derselbe richtet seine Angriffe 
hauptsächlich gegen den Statthalter von Böhmen, den die Hauptschuld an 
der Entfesselung des Rassenhasses der Czechen gegen die Deutschen treffe; er 
begründet im einzelnen die Behauptung, daß die nationalen Gegensätze be- 
reits in die Armee eindrängen und auf den einheitlichen Charakter hfelete 
einen nachteiligen Einfluß ausübten; Redner führt unter vielen andern Bei- 
spielen an, bß am 26. August in Pilsen zu einer Zeit, als der Kaiser da- 
selbst anwesend gewesen sei, eine Schlägerei zwischen czechischen und deutschen 
Soldaten stattgefunden habe, bei welcher 30 deutsche Soldaten verwundet 
worden seien. Er beklagt ferner die Haltung des Klerus in Böhmen: „Unser 
deutscher Klerus ist ja beinahe auf dem Aussterbe-Etat. In deutschen Gegen- 
den finden wir czechische Prediger, welche den Haß gegen das deutsche Volk 
predigen. Meine Herren! Wir stehen auf dem Standpunkte, auf dem uns 
der nationale Gedanke höher steht, als der konfessionelle. (Leb- 
hafter Beifall und Händeklatschen links.) Und wenn der deutsche Klerus 
uns gegenüber in seiner Herzlosigkeit noch weiter verharrt und wir in Deutsch- 
böhmen keine Geistlichen haben werden, die Herz und Gefühl für unser Volks- 
tum haben, dann wird dem Deutschen in Böhmen nichts anderes 
übrig bleiben, als jener Konfession Valet zu sagen (lebhafter Bei- 
fall links) und sich einer Konfession zuzuwenden, die deutsche Seelsorger stellt, 
die ein warmes Herz für ihr Volkstum haben. (Beifall links.) Dann wird 
das deutsche Volk zum Altkatholizismus oder vielleicht zum Protestantis- 
mus, dieser reinen Schöpfung des deutschen Geistes, schreiten.“ 
(Lebhafter Beifall links; große Bewegung im Hause und auf den Gallerien.) 
Redner schließt mit den Worten: „Am Schlusse fallen mir die Worte des 
ungarischen Staatsmannes und Dichters Eötvös ein, der, als er auf dem 
Todtenbette die Nachricht von der siegreichen Schlacht der Deutschen bei 
Wörth erfuhr, die Worte sprach: „Nun bin ich zur Einsicht gelangt und 
kann sterben. Wenn es meinem Vaterlande nicht gegönnt sein sollte, seine
	        
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