Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Erster Jahrgang. 1885. (26)

Rußland. (Mai 3.) 359 
burger Fest den Charakter einer orthodox-panflawistischen Demonstration. An 
dem Festzuge beteiligen sich u. a. der Bischof von Montenegro und der bul- 
garische Bischof Klement, der flawische Wohlthätigkeitsverein, Vertreter der 
Ruthenen, ruthenische Bauerndeputierte und eine Czechen-Deputation. 
3. Mai. Feier des hundertjährigen Jahrestages des „Adels- 
briefs“ Katharina II. Der Kaiser erläßt folgendes Reskript an 
den russischen Adel: 
„Am 21. April 1785 legte unsere Vorfahrin ewigen Andenkens, die 
Kaiserin Katharina II., durch die Verleihung eines Privilegienbriefes den 
Grund zu dem russischen Adelstand, der seinen Ursprung von den Geschlech- 
tern, die sich von altersher durch ihren Dienst ausgezeichnet, den Dienst selbst 
zu einer Würde umgewandelt und ihrer Nachkommenschaft den Titel „edel“ 
erworben haben, herleitet. Hiebei drückte die Kaiserin vor dem ganzen Volke 
dem Adel ihre Dankbarkeit für die Dienste, den Eifer und die unwandelbare 
Treue aus, die der Adel in den unruhigsten Zeiten, im Kriege wie im Frie- 
den den russischen Selbstherrschern bewiesen hat. Heute sind hundert Jahre 
seit der Verleihung des Adelsbriefes verflossen. Der russische Adel hat, dem 
Vermächtnis seiner Vorfahren folgend, treu und recht dem russischen Zaren 
gedient, eine Hauptstütze bei der Verwaltung des Reiches und bei der Ver- 
teidigung gegen äußere Feinde; während der schweren Tage der Prüfungen 
folgte er wie ein Mann mit beispielloser Begeisterung dem Aufruf des Vater- 
landes. Unserem Herzen ist es eine angenehme Pflicht, das anzuerkennen 
und mit unserem Worte zu bezeugen. Und auch in der neuesten Zeit, als 
unser unvergeßlicher Vater es für nötig erachtete, die Leibeigenschaft aufzu- 
heben, da kam der Adel dieser Aufforderung bereitwillig nach und trug große 
Opfer, ein Beispiel von Großmut bietend, wie es sich selten in der Geschichte 
der Länder und Bölker findet. Indem wir an dem heutigen, denkwürdigen 
Tage in dankbarer Erinnerung bei der Geschichte des Adelsstandes, die mit 
der Geschichte des russischen Reiches und Volkes unzertrennlich verbunden ist, 
verweilen, hoffen wir mit Zuversicht, daß die Söhne der mutigen Männer, 
die sich um das Vaterland Verdienste erworben haben, würdige Glieder dieses 
Standes, zum Nutzen des Vaterlandes sein werden. Unsere Sorge ist Hibe 
darauf gerichtet, 1#m die Mittel zu erleichtern, auch in Zukunft ihren hohen 
Beruf mit Ehren zu erfüllen. Mit Rücksicht auf die Mißstände, unter denen 
der adelige Grundbefitz an vielen Orten infolge des Mangels an ökonomischen 
Mitteln und der Schwierigkeit, Kredit zu erlangen, leidet, haben wir dem 
Finanzminister befohlen, auf Grund der von uns angegebenen Prinzipien zu 
der Errichtung einer besonderen adeligen Agrarbank zu schreiten. Hie- 
durch soll dem Adel die Möglichkeit gegeben werden, beständig auf seinen 
Gütern zu verweilen und seine Thätigkeit zur Erfüllung der mit seinem 
Stande verbundenen Pflichten zu entwickeln. In der festen Uberzeugung, daß 
der Fortsetzung dieser Thätigkeit auch auf anderen von der Geschichte und 
dem Willen des Monarchen dem Adel zugewiesenen Gebieten rühmliche Er- 
folge nicht fehlen werden, erachten wir es für recht, daß die russischen Edel- 
leute, wie früher so auch jetzt, im Heere, in den Angelegenheiten der ört- 
lichen Verwaltung und der Justiz, in der uneigennützigen Sorge um die 
Bedürfnisse des Volkes und in der Verbreitung der Regeln der Treue und 
Wahrheit und der gesunden Prinzipien der Volksbildung die erste Stelle 
einnehmen. Das Zeugnis des unwandelbaren monarchischen Wohlwollens, 
an der Schwelle des beginnenden Jahrhunderts, möge den russischen Adel 
zu neuem Eifer im Dienste für das Vaterland anspornen. Mögen die Bäter 
und Mütter ihre Kinder, das künftige Geschlecht des russischen Adels, im
	        
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