Nebersicht der politischen Entwickelung des Jahres 1885. 405
Bundesstaaten zu führen, soweit das Recht dazu nicht ausdrücklich
dem Reiche übertragen worden ist.
Der Inhalt der Botschaft rief gerade bei denjenigen Ele-
menten, welchen die Weiterbildung und Stärkung des Reichs am
meisten am Herzen liegt, die schwerwiegendsten Bedenken hervor.
Man sagte sich mit Recht, daß, ganz abgesehen davon, ob die
Reichsverfassung nicht eine andere Interpretation als die der Bot-
schaft zuläßt, es ein unhaltbarer Zustand sei, wenn dem Reiche
jede Kompetenz auf diesem Gebiete abgesprochen werde und je-
dem Bundesstaate freistehen sollte durch schrankenlose Ausübung
des Ausweisungsrechtes möglicher Weise Konflikte mit dem Aus-
land herbeizuführen. Auch der Reichskanzler schwächte in seinen
spätern Ausführungen die Wirkung der Botschaft ab, indem er
bestritt, daß derselben ein partikularistischer Charakter beiwohne
und sich bereit erklärte, bei der Etatsposition „Gehalt des Reichs-
kanzlers“ in einen „Meinungsaustausch“ über die Ausweisungs-
frage einzutreten. Man beurteilt die Botschaft falsch, wenn man
sie lediglich unter dem Gesichtspunkt der Verhandlung vom 1. De- zunder
zember betrachtet. Es ist ein charakteristischer Zug bismarckscher“ selben.
Politik, aus verhältnismäßig unbedeutenden Vorgängen Veran-
laffung zu Kundgebungen zu nehmen, welche auf einem ganz an-
dern Gebiete zu wirken bestimmt sind. So geht auch die Be-
deutung der kaiserlichen Botschaft vom 30. November 1884 weit
über den Rahmen der Polen-Interpellation hinaus. Auch den
Schlag, den die Botschaft gegen das Zentrun führte, welches sich,
sonst ein Hort des Föderalismus durch seine Vorliebe für die
katholischen Polen zu einer Antastung der einzelstaatlichen Hoheits-
rechte hatte verleiten lassen, war nur ein beiläufiger Gesichtspunkt.
Die kaiserliche Botschaft sollte den Bundesfürsten eine über Par-
teien und Personen hinaus dauernde Garantie bieten für die Er-
haltung ihrer verfassungsmäßigen Selbständigkeit, einmal angesichts
der bedeutsamen Maßregel der Reichssteuerreform, welche für das
Jahr 1886 in Aussicht genommen war und ferner im Rückblick
auf die Besorgnisse, welche vielfach durch die Erledigung der braun-
schweigischen Frage rege geworden waren.
Die braunschweigische Frage hat im vergangenen Jahre