Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Erster Jahrgang. 1885. (26)

418 KNebersict der politischen Entwickelung des Jahres 1885. 
Konflikt bewiesen. Vor allem steht England bei Verfolgung 
einer energischen zentralasiatischen Politik der Parlamentarismus 
entgegen. Der Wechsel des Parteiregiments, der schon für die 
innere Politik schädlich genug wirkt, ist für die auswärtige Po- 
litik geradezu verhängnisvoll: Jede feste Beziehung zu auswärtigen 
Mächten, jedes Bündnis für den Kriegsfall ist so gut wie un- 
möglich, da der Staat, welcher als Gegenkontrahent auftreten 
könnte, nicht sicher ist, ob nicht im entscheidenden Moment im 
Auswärtigen Amte die gerade entgegengesetzte Richtung herrscht; 
und diese Gegensätzlichkeit der auswärtigen Politik der wechselnden 
Kabinette ist bis zu einem gewissen Grade unvermeidlich, denn in 
den Angriffen der Opposition gegen das Ministerium pflegt die 
Kritik der auswärtigen Politik eine der wichtigsten Rollen zu 
spielen. Ging doch die „Morning Post“ im vorigen Jahre sogar 
soweit, dem abgehenden Kabinet Gladstone vorzuwerfen, es habe 
zu einer Zeit als sein Rücktritt bereits entschieden war, in den 
Verhandlungen mit Rußland nachträglich Schwierigkeiten erhoben 
um deren Erledigung dem künftigen konservativen Kabinette zu 
überlassen. Dazu kommt die Art und Weise, wie das Parlament 
die auswärtige Politik durch Vorlegung des diplomatischen Schrift- 
wechsels zu kontrollieren beansprucht. Ja, wenn derselbe nur in 
England gelesen würde! Aber weit eifriger als von den englischen 
Parlamentariern werden die Blaubücher in den auswärtigen 
Amtern der fremden Staaten studiert. So ist Rußland ganz 
genau informiert über die Auffassung, welche die einzelnen Staats- 
männer von den schwebenden Fragen, über die Instruktionen, 
die sie den Gesandten erteilt haben, über den Eindruck den diese 
oder jene Mitteilung, dieses oder jenes Ereignis auf die Regierung 
gemacht hat. Dazu kommt ferner die rücksichtslose, oft unverant- 
wortliche Art, wie die Opposition Fehler, welche das Ministerium 
in der auswärtigen Politik gemacht hat, zur Sprache bringt, um 
die am Ruder befindliche Partei zu diskreditieren. Die gefähr- 
lichsten Wirkungen des Systems dürften aber darin bestehen, daß 
die auswärtige Regierung in der Lage ist, durch geschickte Be- 
nutzung der Verhandlungen Einfluß auf die Erhaltung oder Be- 
seitigung eines Ministeriums und damit auf die auswärtige Po-
	        
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