Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Erster Jahrgang. 1885. (26)

76 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 20. 22.) 
Grund- und Gebäudesteuer und zu ein Drittel nach dem Maßstab der Civil- 
bevölkerung. 
20. April. (Viehzölle.) Reichstag: nimmt die von der 
freien volkswirtschaftlichen Vereinigung beantragte Erhöhung der 
Viehzölle an. 
In der Regierungsvorlage war die Erhöhung der Viehzölle nicht 
beantragt. Staatssekretär von Burchard widerspricht der Annahme, daß die 
verbündeten Regierungen, weil sie Viehzölle nicht vorgeschlagen, Gegner der- 
selben wären; die verbündeten Regierungen hätten sich mit der Frage über- 
haupt noch nicht beschäftigt. 
Die angenommenen Zollsätze sind die folgenden: Pferde 20 M, Stiere 
und Kühe 9 M, Ochsen 30 M (in namentlicher Abstimmung mit 122 gegen 
111 Stimmen angenommen), Jungvieh 6 M, Kälber unter 6 Wochen 3 M 
20. April. Generalkonsul Nachtigal stirbt an Bord des 
Kanonenboots „Möwe“ auf hoher See an perniziösem Wechselfieber 
und wird am 21. April auf Kap Palmas begraben. 
22. April. (Preußen: Kulturkampf.) Abgeordnetenhaus 
lehnt den Antrag Windthorst auf Aufhebung des Sperrgesetzes vom 
22. April 1875 mit 182 gegen 128 Stimmen und den Antrag des- 
selben Abgeordneten, betr. die Straffreiheit des Sakramentspendens 
und Messelesens, mit 169 gegen 127 Stimmen ab. 
Gegen die Anträge stimmen die Konservativen — mit Ausnahme 
einiger Altkonservativer — die Nationalliberalen und ein Teil der Deutsch- 
freisinnigen; die Minorität bilden der Rest der Freisinnigen, Zentrum 
und Polen. 
Windthorst und Schorlemer-Alst befürworten namens des Zentrums 
die Anträge. Kultusminister von Goßler erklärt, daß nach Ansicht der 
Regierung seit der letzten Debatte über das Sperrgesetz (8. März 1884,) 
nichts eingetreten sei, was eine Änderung in der ablehnenden Haltung der 
Regierung rechtfertigen könnte. Er verweist auf die Rede des Reichskanzlers 
vom 3. Dezember 1884, in welcher derselbe die Gründe für die Nichtbe- 
setzung des erzbischöflichen Stuhles in Posen auseinandergesetzt habe, und 
spricht schließlich die Hoffnung aus, daß das Sperrgesetz in seiner Wirksam- 
keit bald aufhören möge, aber nur auf dem Wege, welchen die Regierung 
für den richtigen halte, nämlich durch Wiederbesetzung des erzbischöflichen 
Stuhls mit einem staatlich anerkannten Erzbischof. Die preußische Staats- 
regierung erwarte, daß der Bischof sich als ein preußischer Bischof fühle. 
Das bedeute zweierlei: erstens, daß er sich bewußt sei, daß seine Aufgaben 
auf kirchlichem Gebiete liegen und daß er zweitens ein Glied und Unterthan 
des preußischen Staats und des deutschen Reiches sei. Seine Wirksamkeit 
müsse aber an den Grenzen des preußischen Staats ihr Ende erreichen. 
Der Minister weist auf die Vorstellung hin, welche man in Polen 
mit dem Titel des Erzbischofs von Posen, als „Primas von Polen“ ver- 
binde. Bei diesem liege die Sache anders wie bei den übrigen Primaten, 
die in der That nur Titel wären. Dieser habe nach Ansicht der Polen eine 
reale politische Bedeutung und solange dieß der Fall, werde die Regierung 
dafür sorgen, daß diese reale Bedeutung gebrochen werde. 
Bei der Debatte über den zweiten Antrag erklärt der Minister, unter 
Bezugnahme auf seine Erklärungen zu demselben Gegenstande vom 25. April
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.