Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 30.—Mai 4.) 81
Der offizielle Bericht des Reichsanzeigers über die Sitzung erwähnt
diesen letzten Gegenstand überhaupt nicht, während andere Zeitungen berichten,
daß der Reichskanzler sich lebhaft an der Debatte beteiligt und die preußischen
Anträge auf Herabsetzung der Zahl der Geschworenen sehr warm verteidigt
habe; infolgedessen sei von der Mehrzahl der Bevollmächtigten der Wunsch
ausgesprochen, die neu entwickelten Gesichtspunkte und namentlich den Inhalt
der Reden des Reichskanzlers ad referendum zu nehmen und demgemäß
die Vertagung beschlossen.
30. April — 4. Mai. (Antrag Hüne.) Abgeordnetenhaus:
Zweite und dritte Lesung des Antrages Hüne. In der Schlußab-
stimmung wird das Gesetz mit 223 Stimmen (Zentrum, Polen,
das Gros der Konservativen und 7 Nationalliberale) gegen 86 Stimmen
(die übrigen Nationalliberalen, Freisinnigen, 2 Konservative und 8
Freikonservative) angenommen.
Die Nationalliberalen stellen folgenden Abänderungsantrag: Die auf
Grund des § 8 des Reichsgesetzes vom 15. Juli 1879 auf Preußen entfallenden
Summen sollen nur insoweit zu allgemeinen Staatszwecken verwendet werden,
als sie den Betrag von drei und einer halben Monatsrate der Grund- und
der Gebäudesteuer übersteigen. Der Betrag von drei und einer halben
Monatsrate der Grund- und Gebäudesteuer wird nach Maßgabe der nach-
folgenden Bestimmungen den Kommunalverbänden überwiesen.
Von freikonservativer Seite wird beantragt, von den auf Grund des
Reichsgesetzes vom 15. Juli 1879 auf Preußen entfallenden Summen einen
Betrag von jährlich 20 Millionen Mark nicht zu allgemeinen Staatszwecken,
sondern zur Erleichterung der Kommunal- und Schullasten zu verwenden
und diese Verwendung dieser Summe durch ein besonderes Gesetz zu regeln.
In der Debatte stellt der Finanzminister von Scholz in Abrede, daß
die Regierung ihre Ansichten gewechselt habe. Sie habe Akt genommen
davon, daß das, was sie schon lange erstrebt habe, von anderer Seite entgegen-
gebracht worden sei und sie habe freudig zugestimmt. An sich enthalte der
nationalliberale Antrag viele Vorzüge; denn es sei finanztechnisch nicht er-
wünscht, bestimmte Einnahmen für bestimmte Zwecke anzuweisen; der
Gedanke der Überweisung eines Teiles der Grund- und Gebäudesteuer
entspreche auch einem seit lange verfolgten Ziel der Regierung. Die Regierung
werde jedoch, wenn das Haus den weniger guten Hüne'schen Antrag annehme,
auch diesem zustimmen.
Sehr bemerkt wird die Kritik, welche der Kultusminister v. Goßler
vom Standpunkt seines Ressorts an dem Hüne'schen Entwurf übt: Der
Minister erklärt, er wolle keine Abänderung der Kommissionsbeschlüsse
beantragen, sondern nur das Interesse der Unterrichtsverwaltung an dem
Gesetze klarlegen.
„Das kann man wohl nicht in Abrede stellen, daß der gegenwärtige
Gesetzentwurf in zweierlei Hinsicht für die Unterrichtsverwaltung von Be-
deutung ist, einmal in der Hinsicht, daß Gelder, welche zu einer neuen
Dotation der Schulverbände (Hört, hört! links) und zu einer anderweitigen
organischen Regelung der Schullasten verwandt werden können, daß diese
Gelder, vorläufig wenigstens, festgelegt werden, (Hört, hört! links und bei
den Freikonservativen) und zweitens in der Hinsicht, daß in das Volksschul-
wesen, welches nach der Verfassung und nach unserer geschichtlichen Ent-
wickelung heute auf der einen Seite in den Händen der Schulverbände, teils
also der politischen Kommunen, teils anderer Schulgemeinden, und auf der
Europ. Geschichtskalender XXVI. Bd. 6