258 Die Oefterreithisch-Angarische Menarhie. (November 13.)
neuen gewaltsamen Veränderungen einen Damm entgegenzusetzen. Die Türkei
hat es jedoch verabsäumt, die ihr diesbezüglich gebotenen Garantien zu be-
nützen. Die Leichtigkeit, mit welcher der türkische General-Gouverneur und
Oberkommandant in Philippopel gestürzt werden konnte, bewies, wie wenig
Halt diese Institution in den Händen der Pforte habe. Ebensowenig hat
die Türkei für die Wiederherstellung ihrer Autorität gethan. In einem
Zeitpunkte, wo ihr niemand das Einschreiten gewehrt hätte, konnte sie sich
in keiner Form entschließen, von ihren Souveränetätsrechten in Ostrumelien
Gebrauch zu machen. Es ist im Interesse des Berliner Vertrages zu be-
dauern, daß die Türkei bezüglich der ihr darin zugedachten Stellung, auf die
man für die Kontinuität der Zustände gerechnet hatte, den gehegten Erwar-
tungen so wenig entsprach. Redner deutet dies nur deßhalb an, weil daraus
zu ersehen ist, daß die passive Haltung der Pforte bei den Ereignissen auf
der Balkan-Halbinsel überhaupt, obwohl heute nur von Bulgarien die Rede
ist, den Mächten noch manche Sorge bereiten dürfte. Unter allen Umständen
wird es die Aufgabe der Mächte sein, sowohl bezüglich Bulgariens für die
Herstellung eines Zustandes zu sorgen, den man als legal bezeichnen kann,
als auch die Ordnung jener Fragen anzubahnen, welche aus dem neuen Ver-
hältnisse zu Ostrumelien hervorgehen. Die k. und k. Regierung werde in
dieser Beziehung dahin wirken, daß die zulässigen Wünsche der Bulgaren,
für welche die Zustimmung der Pforte und der Mächte zu erwerben ist, be-
rücksichtigt werden. Nähere Aufschlüsse über die Schritte, welche die gemein-
same Regierung zur Beseitigung der gegenwärtigen Wirren unternommen hat
oder noch zu machen gedenkt, ließen sich gegenwärtig schwer erteilen. — — Was
die Aufgabe der Regierung zunächst sein mußte, war, gegen solche Akte und
Vorfälle vorzusorgen, welche den gegenwärtig überwiegend bulgarischen Cha-
rakter der Krise zu einem europäischen hätten stempeln können. Wenn z. B.
Rußland beabsichtigt oder versucht hätte, einen Kommissär nach Bulgarien
zu entsenden, welcher mehr oder weniger die Regierung des Landes an sich
genommen hätte, oder wenn es zu einer militärischen Okkupation, sei es der
Küstenplätze oder des Landes selbst, geschritten wäre, so wären dies Akte ge-
wesen, welche uns unter jeder Bedingung zu einer entschiedenen Stellung-
nahme gezwungen hätten. Daß solche Akte nicht eingetreten sind, und dahin
zu wirken, daß sie vermieden werden, habe die Regierung für wichtiger er-
achten müssen, als sich damit zu befassen, ob die Bulgaren vom General
Kaulbars mehr oder weniger gequält werden, ob die Sobranje früher oder
später einberufen wird u. s. w.
Redner glaubt versichern zu können, daß, wie die Dinge und die ganze
Tendenz der Entwicklung heute stehen, eine friedliche Beilegung, ohne daß
unsere oder europäische Interessen dabei verletzt werden, nicht nur möglich,
sondern wahrscheinlich ist. — — Es werde gewiß sehr gut sein, wenn aus dem
Schoße der Delegationen Außerungen darüber hervorgehen, daß es in beiden
Teilen der Monarchie niemanden gibt, der den Krieg wünscht. (Graf An-
drassy: Niemand!) Wir Alle wollen den Frieden, gewiß nicht den Frieden
um jeden Preis. — — Es sei ja natürlich, daß die tägliche Verletzung des Rechts-
gefühls, wie sie in den Nachrichten über das Auftreten des Generals Kaul-
ars und die Freilassung der meuterischen Offiziere u. s. w. gegeben war,
in der öffentlichen Meinung eine gewisse Irritation und Ungeduld erzeugt
habe, welche eine Sühne irgend welcher Art herbeiwünschte. Diese Erregung
und Ungeduld mochte die Meinung, die namentlich in Deutschland verbreitet
war, erzeugt haben, daß man hier nach einem Kriege verlange; eine Mei-
nung, die durchaus irrtümlich sei. Z
Graf Kalnoky behandelt hierauf in eingehender Weise die Beziehungen
der Monarchie zu den einzelnen Mächten. Es sei keine Phrase, wenn die