382 Raßland. (Mai 1. Hälfte —Juli 1. Hälfte.)
man in St. Petersburg bereits, daß die Königin von Großbritannien auf
dem Wege nach Berlin war. Die unmittelbar bevorstehende Zusammenkunft
der Königin von England mit dem deutschen Kaiser hat also in St. Peters-
burg nicht einmal so viel Einfluß gehabt, einen Akt um wenige Tage zu
verschieben, der geeignet war, in Deutschland das äußerste Befremden hervor-
zurufen. Das sieht fast aus, als vertraue die russische Politik so fest auf
das baldige Emporkommen der Boulanger und Déroulede in Frankreich, daß
sie kein Bedenken mehr trage, Deutschland, dem es bereits an sichern Bundes-
genossen nicht fehlt, auch noch, wir wollen nicht sagen: in die Arme Eng-
lands zu treiben, wohl aber, zum Eingehen auf die Gesichtspunkte der eng-
lischen Politik anzuregen.
Eine weitere Stärkung erfährt die panflawistische Agitation
durch die um die gleiche Zeit erfolgende einstimmige Wahl Ge-
neral Ignatiews zum Präsidenten der „Slawischen Wohlthätigkeits-
gesellschaft".
1. Hälfte Mai. (Judenausweisungen.) Die gegen den
Aufenthalt ausländischer Juden in Rußland bestehenden Vorschriften
werden den Lokalbehörden in Erinnerung gebracht.
Infolge dessen sind namentlich österreichische, rumänische und türkische
Juden angehalten worden, innerhalb einer bestimmten Zeit, welche zwischen
4 Wochen und 8 Tagen bemessen ist, das Land zu verlassen. Sicherem Ver-
nehmen nach ist der Grund dieser strengen Einhaltung der bestehenden Vor-
schriften auf wiederholte Eingaben der hier ansässigen Judenschaft zurückzu-
führen, welche den betreffenden Behörden vorstellen, in welcher Weise der
Zuzug fremder Glaubensgenossen ihrem Erwerbe schädlich sei.
25. Mai. (Protestantische Prediger.) Es wird ein Gesetz
veröffentlicht, welches die Ursachen modifiziert, aus denen protestan-
tische Prediger provisorisch aus dem Amte entfernt werden können,
und den Minister des Innern ermächtigt, deren Entfernung aus
dem Amte eventuell bei dem Konsistorium behufs obligatorischer
Ausführung derselben zu beantragen.
27. Mai. Eröffnung der transkaspischen Bahn.
10. Juni. (Baltische Provinzen.) Der Reichsrat ge-
nehmigt mit wenigen Aenderungen den vom Ministerium des In-
nern ausgearbeiteten Gesetzentwurf über die Landespolizei in den
baltischen Provinzen. Das Gesetz läßt den Grundbesitzern nur unter-
geordnete Polizeibefugnisse.
1. Hälfte Juli. (Heeresreformen.) Ein kaiserlicher Ukas
setzt das Rekrutenkontingent auf 250,000 gegen 235,000 Mann im
Vorjahre fest. — Ein weiteres Gesetz wird promulgiert, welches
die Dienstdauer im aktiven Heere und der Landwehr verlängert.
Bisher war die Dienstzeit im russischen Heere mit 15 Jahren be-
messen, von denen fünf Jahre in der aktiven Armee und zehn Jahre in der
Reserve zu erfüllen waren. Außerdem gehörte jeder wehrfähige Russe bis zu