Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dez. 4.) 177
Ebenso möchte Ich das Nationale bei uns weiter gefördert sehen in
Fragen der Geschichte, Geographie und der Sage. Fangen wir erst einmal
bei uns zu Hause an. Erst wenn wir in den verschiedenen Kammern und
Stuben Bescheid wissen, dann können wir ins Museum gehen und uns auch
dort umsehen. Aber vor allen Dingen müssen wir in der vaterländischen
Geschichte Bescheid wissen. Der Große Kurfürst war zu Meiner Schulzeit
nur eine nebelhafte Erscheinung; der siebenjährige Krieg lag bereits außer-
halb aller Betrachtung, und die Geschichte schloß mit dem Ende des vorigen
Jahrhunderts, mit der französischen Revolution. Die Freiheitskriege, die
das wichtigste sind für den jungen Staatsbürger, wurden nicht durch-
genommen, und nur durch ergänzende, sehr interessante Vorträge des Herrn
Geheimen Rats Hinzpeter bin Ich, Gott sei Dank, in der Lage gewesen,
diese Dinge zu erfahren. Das ist aber gerade das punctum saliens. Warum
werden denn unsere jungen Leute verführt? Warum tauchen so viele un-
klare, konfuse Weltverbesserer auf ? Warum wird immer an unserer Regie-
rung herumgenörgelt und auf das Ausland verwiesen? Weil die jungen
Leute nicht wissen, wie unsere Zustände sich entwickelt haben und daß die
Wurzeln in dem Zeitalter der französischen Revolution liegen. Und darum
bin Ich gerade der festen Überzeugung, daß, wenn wir diesen Übergang
aus der französischen Revolution in das 19. Jahrhundert in einfacher,
objektiver Weise in den Grundzügen den jungen Leuten klar machen, so be-
kommen sie ein ganz anderes Verständnis für die heutigen Fragen, wie sie
es bisher hatten. Sie sind dann im stande, auf der Universität durch die
ergänzenden Vorlesungen, die sie dann hören, ihr Wissen weiter zu verbessern
und zu vergrößern.
Komme ich nun auf die Beschäftigung unserer jungen Leute, so ist
absolut notwendig, daß wir mit der Anzahl der Stunden heruntergehen.
Herr Geheime-Rat Hinzpeter wird sich erinnern, daß zur Zeit, wie Ich auf
dem Gymnasium in Kassel war, der erste Notschrei der Eltern und Familien
laut wurde, daß es nicht so weiter gehen könne. Es wurden infolge dessen
Erhebungen von der Regierung angestellt: wir waren verpflichtet, alle Morgen
unserem Direktor Zettel abzugeben mit der Stundenzahl der häuslichen
Stunden, die wir nötig gehabt hatten, um das für den nächsten Tag auf-
gegebene Pensum zu bewältigen. Es sind bloß die Zahlen aus der Prima
speziell, die Ich jetzt hier berühre. Nun, meine Herren, es kamen bei ganz
ehrlichen Angaben — bei Mir konnte sie noch Herr Geheime-Rat Hinzpeter
kontrollieren — für jeden einzelnen 5½, 6½ bis 7 Stunden auf die häus-
lichen Arbeiten heraus. Das waren die Abiturienten. Rechnen Sie noch
dazu die 6 Stunden Schule, 2 Stunden Essen, dann können Sie ausrechnen,
was von dem Tag übrig geblieben ist. Wenn Ich nicht Gelegenheit gehabt
hätte, hinaus= und hineinzureiten und noch sonst etwas Mich in der Frei-
heit zu bewegen, dann hätte Ich überhaupt nicht gewußt, wie es in der
Welt aussieht. Das sind doch immerhin Leistungen, die man jungen Leuten
auf die Dauer nicht aufbürden kann. Nach Meinem Erachten muß auch
nach unten entschieden nachgeholfen und nachgelassen werden. Meine Herren,
es geht nicht, man darf diesen Bogen nicht weiter spannen und nicht so
gespannt lassen. Wir müssen hier herunter, wir haben hier die äußerste
Grenze bereits überschritten. Die Schulen — Ich will einmal von den
Gymnasien sprechen — haben das Uebermenschliche geleistet und haben Meiner
Ansicht nach eine allzustarke Überproduktion der Gebildeten zu Wege ge-
bracht, mehr wie die Nation vertragen kann, und mehr, wie die Leute selbst
vertragen können. Da ist das Wort, das vom Fürsten Bismarck herrührt,
richtig, das Wort von dem Abiturientenproletariat, welches wir haben. Die
sämtlichen sogenannten Hungerkandidaten, namentlich die Herren Journalisten,
Europ. Geschichtskalender. Bd. XXII. 12