Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechster Jahrgang. 1890. (31)

178 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dez. 4.) 
das sind vielfach verkommene Gymnasiasten, das ist eine Gefahr für uns. 
Dieses Übermaß, das jetzt schon zu viel ist, gleichsam ein Rieselfeld, das 
nicht mehr aufnehmen kann, muß beseitigt werden. Ich werde daher kein 
Gymnasium mehr genehmigen, das nicht absolut seine Existenzberechtigung 
und Notwendigkeit nachweisen kann. Wir haben schon genug. 
Nun aber handelt es sich darum: wie kann man den Wünschen in 
bezug auf klassische Bildung und in bezug auf Realbildung und in Bezug 
auf die Berechtigung zum Einjährigfreiwilligen-Dienst am besten beikommen? 
Ich halte dafür, daß die Sache ganz einfach dadurch zu erledigen ist, daß 
man mit einem radikalen Schritt die bisherigen Anschauungen zur Klärung 
bringt, daß man sagt: klassische Gymnasien mit klassischer Bildung, eine 
zweite Gattung Schulen mit Realbildung, aber keine Realgymnasien. Die 
Realgymnasien sind eine Halbheit, man erreicht mit ihnen nur Halbheit der 
Bildung, und das Ganze gibt Halbheit für das Leben nachher. 
Sehr berechtigt ist die Klage der Gymnasial-Direktoren über den un- 
geheueren Ballast von Schülern, den sie mitzuschleppen haben, der nie zum 
Examen kommt und bloß die Berechtigung für den einjährigen Heeresdienst 
erlangen will. Nun wohl, der Sache ist einfach dadurch abzuhelfen, daß 
wir ein Examen einschieben, da, wo der Einjährige abgehen will, und außer- 
dem seine Berechtigung davon abhängig machen, daß er, wenn er die Real- 
schule besucht, das Abgangszeugnis für die Realschule nachweist. Dann 
werden wir es bald erleben, daß der ganze Zug dieser Kandidaten für den 
einjährigen Heeresdienst von den Gymnasien auf die Realschulen geht; denn, 
wenn sie die Realschule durchgemacht haben, dann haben sie, was sie suchen. 
Ich verbinde damit noch einen zweiten Punkt, den ich vorhin schon 
erwähnte, das ist dieser: die Verminderung des Lehrstoffes ist nur möglich 
durch einfachere Gestaltung der Examina. Nehmen wir die grammatikalischen 
Produktionen ganz aus dem Abiturienten-Examen heraus und legen sie ein 
oder zwei Klassen tiefer, lassen Sie da ein Examen machen, ein technisch- 
grammatikalisches Examen, dann können Sie die jungen Leute prüfen, so 
scharf wie Sie wollen, dann können Sie an dieses Examen die Freiwilligen- 
prüfung knüpfen, und außerdem für denjenigen, der Offizier werden will, 
das Fähnrichexamen damit verbinden, so daß er nachher dasfselbe nicht mehr 
zu machen braucht. Sobald wir die Examina in dieser Beziehung modi- 
sizieren und die Gymnasien in dieser Weise erleichtert haben, dann wird das 
Moment wieder zur Geltung kommen, das in der Schule und speziell in den 
Gymnasien verloren gegangen ist: die Erziehung, die Charakterbildung. Das 
können wir jetzt beim besten Willen nicht, wo 30 Knaben in der Klasse sind 
und ein solches Pensum zu bewältigen haben, und außerdem oft junge Leute 
den Unterricht erteilen, deren Charakter noch häufig selber ausgebildet werden 
muß. Hier möchte Ich das Schlagwort, das Ich von dem Geheimen Rat 
Hinzpeter gehört habe, anführen: Wer erziehen will, muß selbst erzogen sein. 
Das kann man von dem Lehrerpersonal jetzt nicht durchweg behaupten. Um 
die Erziehung zu ermöglichen, müssen die Klassen in bezug auf die Schüler- 
zahl erleichtert werken. Das wird auf dem Wege, den ich eben beschrieben 
habe, geschehen. Dann muß davon abgegangen werden, daß der Lehrer nur 
dazu da ist, täglich Stunden zu geben und daß, wenn er sein Pensum ab- 
solviert hat, seine Arbeit beendigt ist. Wenn die Schule die Jugend so 
lange dem Elternhause entzieht, wie es geschieht, dann muß sie auch die 
Erziehung und die Verantwortung für diese übernehmen. Erziehen Sie die 
Ingend, dann haben wir auch andere Abiturienten. Ferner muß von dem 
Grundsatz abgegangen werden, daß es nur auf das Wissen ankommt und 
nicht auf das Leben; die jungen Leute müssen für das jetzige praktische Leben 
vorgebildet werden.
	        
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