Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechster Jahrgang. 1890. (31)

Mebersicht der politischen Entwickelung des Jahres 1890. 315 
tember 1852, welche den Verkehr der einzelnen Minister mit dem 
König an die Beteiligung des Ministerpräsidenten band. (Vgl. 
S. 47). Diese Verordnung war ihrer Zeit nicht in der Gesetzsamm- 
lung publiziert, aber auch nicht zurückgenommen worden. Auf sie 
gestützt hatte der Fürst Bismarck neuerdings seine den anderen 
Ministern übergeordnete Stellung zur Geltung gebracht, worauf 
der König die Aufhebung der Vorschrift forderte. Indem der Fürst 
mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Einheitlichkeit in der 
Verwaltung die Aufhebung verweigerte, kam es zum Bruch. Der 
Kanzler reichte sein Abschiedsgesuch ein und der Kaiser genehmigte 
es (20. März), zwar in den gnädigsten Ausdrücken, aber mit dem 
unverkennbaren Bewußtsein einer vollen und prinzipiellen Abwen- 
dung. Vielfach hoffte man, der Bruch werde dadurch ein weniger 
schroffes Ansehen erhalten, daß Graf Herbert Bismarck fortfahren 
werde, als Staatssekretär des Auswärtigen zu fungieren, aber auch 
das stellte sich als Unmöglichkeit heraus. Wie Graf Herbert die 
letzten Jahre die Hauptstütze seines Vaters gewesen war, so trat er 
auch jetzt mit ihm ins Privatleben. Murrend zog der alte Held 
sich zurück in seinen Sachsenwald und erschreckte Freund und Feind 
zuweilen durch allzufreie Aussprachen vor Deputationen und Zei- 
tungskorrespondenten, die aber auch jetzt noch vornehmlich seiner 
letzten großen Aufgabe, der Erhaltung des Weltfriedens, dienten, 
indem er durch direkte Belehrung französischer und russischer Jour- 
nalisten die öffentliche Meinung jener Völker von der Lauterkeit der 
Friedensabsichten Deutschlands zu überzeugen suchte. 
In dumpfer Resignation wie ein unverstandenes und unver- 
ständliches Schicksal hatte die öffentliche Meinung die Zeitung von 
seiner Verabschiedung hingenommen. Nirgends erhob sich zum Er- 
staunen des Auslands ein laut tosender Protest, weil die inner- 
politischen Kreise, welche der öffentlichen Meinung die Zunge 
geben, die tragische Notwendigkeit erkannten und ihre Gefühle der 
Dankbarkeit und Treue mit dem politischen Pflichtbewußtsein nicht 
anders als durch Zurückhaltung zu vereinigen vermochten. Vor 
dem Reichskanzler-Palais in der Wilhelmstraße stand in den letzten 
Tagen dichtgedrängt die Menge, um den Scheidenden noch einmal 
zu sehen und zu begrüßen. Als er auf das Schloß fuhr, um sich
	        
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