Nebersicht der politischen Entwickelung des Jahres 1890. 317
Dinge sehr unbedeutend. Eine wirklich tief einschneidende Maßregel
würde ein Maximal-Arbeitstag für die erwachsenen Arbeiter sein;
aber dieser wurde von vornherein von den Beratungen ausgeschlossen.
Trotzdem wäre es sehr falsch, zu meinen, daß man, wie es im Sprich-
wort heißt, mit Kanonen nach Spatzen geschossen hätte. Wichtiger
als die einzelnen Bestimmungen ist die moralische Wirkung der
Kaiserlichen Initiative und des Kaiserlichen Auftretens. Es handelt
sich um Dinge, die durch das starre Gesetz überhaupt sehr schwer
zu fassen sind, wo unter allen Umständen viele Ausnahmen zu-
gelassen werden müssen und deshalb das meiste von der Kontrolle
und dem guten Willen abhängt. Die internationale Konferenz konnte
überhaupt keine Bestimmungen treffen, sondern nur erklären, was
sie für „wünschenswert“ halte; die gesetzgebenden Faktoren der ein-
zelnen Staaten müssen danach die für jedes Volk passenden gesetz-
lichen Formulierungen finden und die Kontrolle schaffen. Erst recht
hängt also hier alles von dem guten Willen ab. Dieser aber be-
darf der Anregung und die Bedeutung der Konferenz liegt also
nicht sowohl in ihren konkreten Beschlüssen als darin, daß durch
den Eindruck, den das Ereignis gemacht hat, die Arbeiterschutz-
gesetzgebung auf die Tagesordnung aller zivilisierten Staaten gesetzt
ist. Allenthalben berufen sich der Arbeiterstand und seine Freunde
jetzt auf den Deutschen Kaiser, scharen sich um die Grundsätze, die
hier ausgesprochen worden sind, und bringen so gesetzgeberische Re-
formen, die sonst wohl noch lange gestockt hätten, in Fluß. Das ist
doppelt wichtig, da ja die Rücksicht auf die wirtschaftliche Konkurrenz
jeden Staat zwingt, auf die Gesetzgebung der Nachbarn zu achten
und sich zu vergewissern, daß sie in den humanitären Maßregeln
nicht zu weit hinter ihm zurückbleiben.
Fast noch wichtiger aber möchte die zweite moralische Wirkung
erscheinen. Die Konferenz hat vor allen Völkern von neuem doku-
mentiert, daß die Interessen Deutschlands und des Deutschen Kai-
sers durchaus friedlicher Natur sind. Wenn in Frankreich sich die
öffentliche Meinung anfänglich etwas sträubte (vgl. Frankreich 27.
Febr. und 6. März), sich durch die Annahme der Einladung zu der
Konferenz sozusagen unter die Führung Deutschlands zu stellen, so
erkennt man daran erst recht, wie wichtig die Thatsache ist: daß