Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

160 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 3.) 
die Gelegenheit wahrgenommen, am letzten Sonntag zu predigen über den 
Spruch, daß das höchste Gesetz der Wille Gottes sei. Selbst die Offiziösen 
haben in ihren verlegenen Ausreden gezeigt, daß sie im Grunde dasselbe 
denken. Warum der Sturm, da es sich doch thatsächlich nur um ein Wort, 
um durchaus nichts Konkretes, keine Absicht, keinen Plan, kein Symptom 
handelt, das irgend etwas neues ahnen ließe? Wir wollen uns nicht scheuen, 
es auszusprechen: die Aufregung ist deshalb so groß, weil die öffentliche 
Meinung jenen Spruch als eine Art Beleidigung empfunden hat und weil 
damit eine bereits vorhandene Stimmung zum Ausdruck gebracht worden ist. 
Man hat das zufällige Wort nur als den Exponenten des subjektiven monar- 
chischen Willens aufgefaßt, dem man sich rüstet, Widerstand zu leisten. Hier 
liegt für die Zukunft eine Gefahr, die gar nicht ernst genug genommen werden 
kann. Zunächst muß diese Stimmung den spezifisch monarchisch gesinnten Par- 
teien zum Verderben gereichen. Ihnen traut man nicht zu, daß sie willkür- 
lichen Unternehmungen und Forderungen genügenden Widerstand entgegensetzen, 
und wendet sich lieber den Parteien zu, deren Kraft in der Opposition liegt. 
Jener ganze gebildete Mittelstand, der sich in den 70er und 80er Jahren 
um Kaiser Wilhelm den Alten und den Fürsten Bismarck geschart, die kon- 
servativen Parteien verstärkt, in zahlreichen Wahlkreisen den Ausschlag ge- 
geben hat, wird sich aus dem politischen Leben zurückziehen oder zur Oppo- 
sition übergehen. Die radikalen Elemente auf der Linken können die Ober- 
hand gewinnen, und dann steht der Verfassungskonflikt vor der Thür. Nicht 
die sachlichen Streitpunkte, man kann es nicht oft genug wiederholen, sondern 
allein die Wiederbelebung des konstitutionellen Machtstreits birgt die Gefahr 
für die Zukunft. Das Aufkommen einer dem Monarchen persönlich wider- 
strebenden Stimmung muß unser politisches Leben im innersten vergiften. 
Es ist ein höchst merkwürdiger Seelenzustand, in dem sich unser Volk be- 
findet. Die thatsächliche Ueberlieferung wie die konstitutionelle Doktrin 
stimmen darin überein, daß die Opposition sich nicht gegen den Monarchen, 
sondern gegen die Minister richten soll. Es ist in diesem Augenblick geradezu 
umgekehrt. Die Minister sind anerkannt vorzügliche Männer, die kaum hier 
und da eine Anfechtung erleiden. Dennoch ist das Volk in einer nicht bloß 
mißmutigen, sondern geradezu aufgeregt oppositionellen Haltung, die Konser- 
vativen, weil der Kaiser zu liberal ist, die Liberalen, weil sie ein konsti- 
tutionelles und kein persönliches Regiment wollen. Was der Kaiser will 
und was den eigentlichen Inhalt der gegenwärtigen Regierung bildet, darf 
man vielleicht als aufgeklärten Konservatismus bezeichnen. Was das Bolk 
argwöhnt und wogegen es im Begriff ist, Front zu machen, dürfte man mit 
jenem Ausdruck des vorigen Jahrhunderts den aufgeklärten Despotismus 
nennen. Welcher von beiden Begriffen die Oberhand behält, davon wird 
das Schicksal Deutschlands in der nächsten Epoche wesentlich abhängen. 
In der gesamten deutschen Presse ohne Unterschied der Par- 
teien findet diese Schilderung Zustimmung. 
3. Dezember. Generalsynode. Als Abschluß der Session 
erfolgt die Wahl des Generalvorstandes und des Synodalrates. 
Es mußte von einer Wahl durch Akklamation abgesehen und zur 
Zettelwahl geschritten werden. Bei der Wahl des Vorsitzenden fallen 97 
Stimmen auf den Wirkl. Geheimrat v. Kleist-Retzow, 71 Stimmen auf den 
Fürsten Stolberg. Zum stellvertretenden Vorsitzenden wurde durch Akkla- 
mation Generalsuperintendent D. Schultze gewählt. Als Beisitzer wurden 
von 166 gültigen Stimmen gewählt: die Synodalen Frowein mit 165 
Stimmen. Holtzheuer mit 154 Stimmen, Köstlin mit 163 Stimmen, Graf 
 
	        
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