Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 10.) 161 
Zieten-Schwerin mit 94 Stimmen (gegen welchen auf den Synodalen Stöcker 
72 entfielen) und Synodale Keßler mit 163 Stimmen. Das Unterliegen 
des Synodalen Stöcker ruft in einem Teile der Synode große Bewegung 
hervor. Als stellvertretende Beisitzer werden durch Akklamation gewählt die 
Synodalen- von Wedell, Graf Rothkirch-Trach, Altmann, Hahn (Berlin), 
Künstler. 
10. Dezember. (Reichstag.) Erste Beratung der Verträge 
mit Oesterreich-Ungarn, Italien und Belgien. 
Reichskanzler v. Caprivi: 
Die Zoll= und Handelsverträge, welche den Gegenstand der heutigen 
Tagesordnung bilden, werden, wie ich mit Bestimmtheit annehmen kann, 
zur Stunde um einen vierten, um den mit der Schweiz, vermehrt worden 
sein. (Bravo!) 
Ich darf voraussetzen, daß die diese Verträge begleitende Denkschrift 
dem hohen Hause bekannt ist. Sie legt dar, wie die Zölle von 1879 ent- 
standen waren, wie sie 1885 und 1887 erhöht worden sind, und wie sie auf 
das Deutsche Reich und auf das Ausland wirkten; wie die Wirkung zuerst 
in Deuischland eine nach allen Richtungen befriedigende war, wie aber all- 
mählich in dem Maße, als andere Staaten dasselbe System annahmen, die 
Vorteile desselben sich für das Deutsche Reich in Nachteile verkehrten. 
Die autonome Feststellung von Zöllen, die Feststellung unseres Zoll- 
systems nach unserem eigenen Bedürfnis, ohne Fremde zu hören und zu be- 
rücksichtigen, hat den großen Vorteil gehabt, daß die heimische Industrie 
erstarkte und sich in einer Weise entwickelte, begünstigt von dem Aufschwung 
der Technik, von dem Vorhandensein verfügbarer Kapitalien, wie sie es bis 
dahin nicht gekannt hatte. Je mehr die Industrie aber auf den inneren 
Markt beschränkt wurde, desto mehr traten mit der Zeit auch Schattenseiten 
dieses Systems hervor, nämlich, daß der Markt überfüllt wurde, daß eine 
Ueberproduktion eintrat, daß also diese hochgesteigerte Industrie anfing, wenn 
auch diese Anfänge bisher nur schwache gewesen sind, in Verlegenheit um 
den Absatz zu geraten. 
Neben den autonomen Zöllen war charakteristisch für das bisherige 
Verfahren das Bestreben, das Meistbegünstigungsrecht von anderen Staaten 
zu erwerben. Art. 11 des Frankfurter Friedens gewährt Frankreich und 
Deutschland wechselseitig in einem gewissen Umfange die Meistbegünstigung. 
Beide Länder schienen anfangs davon Vorteil zu ziehen, bis man dann auf 
der anderen Seite zu der Ansicht kam, daß die ausgedehnte Meistbegünsti- 
gung, die dann infolge von Verträgen, welche mit dritten Staaten abge- 
schlossen wurden, auch denen zu teil wurde, ihre Nachteile hätte. Und so 
fing auch diese gute Seite des Systems an, sich in eine ungünstige Seite zu 
verkehren; aus der Meistbegünstigung wurde allmählich eine Gesamtbeschä- 
igung. 
Fum nicht einzelne Vorteile gewähren zu müssen, entschloß sich in 
erster Linie unser westlicher Nachbar — darin aber werden ihm voraussicht- 
lich andere Staaten folgen — dazu, auch Deutschland nichts mehr zu ge- 
währen, und wir sehen im Augenblick in Frankreich einen Maximal= und 
Minimaltarif entstehen, von denen selbst der Minimaltarif einem Prohibi- 
tivzoll ziemlich gleichkommt. 
In unseren Absatzmärkten beschränkt zu werden, ist für Deutschland 
im höchsten Grade empfindlich. Wir haben einen weitausgedehnten Handel; 
wir führen jährlich für etwas über 4000 Millionen Mark fremde Waren 
ein und führen nur für etwas über 3000 Millionen Mark eigene Waren 
Europ. Geschichtskalender. Bd. XXXII.                 11
	        
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