Object: Europäischer Geschichtskalender. Zwanzigster Jahrgang. 1879. (20)

96 Das beuische Reich und friur rinzelnen Glieder. (März 4/7.) 
lung ungemein erschweren. Schon jeht habe der Präsident alle Mittel, die 
Ordnung im Hause aufrechtzuhalten; er könne in jedem Augenblick die 
Sibung schließen und vertagen. Der Geietyzentwurf sei ein Eingriff in die 
Freiheit deo Parlaments, zu welchem kein Bedürfniß vorliege. Fürst 
Viemarck hat leinen Anlaß, sich auf die Vorlage jelbst einzulassen, welche 
ein Jnternum des Reichstags betresse. Er will aber dem Vorredner darin 
entgegemreten, daß er behauplete, die Gleichheit des Bundesraths und der 
Abgrordneten sei durch den Entwurf gestört. Diese Gleichheit existire gar 
nicht. Der Abgeordnete sei in seinen Aeußerungen geschüßpt, das Bundes- 
rathsmitglied nicht. Letteres siehe unter dem gemeinen Necht. „Seildem 
mir diese Einsicht helommen. bin ich vorsichtiger in meinen eherune ge- 
worden (Heiterkeit); ich habe damals den Ausdruck „Lüge“, den ich in Be- 
zug auf einen Abgrordneten gebraucht haben sollte, wohlweislich schnell zu- 
rückgenommen. Die Vorlage bezweckt dreierlei: Vermeidung von Beleidig- 
ungen, Unterdrückung von Agitationen und Erhöhung der Würde des Reichs- 
lags durch Stärkung des Ansehens des Präsidenten. Möglich, daß man über 
den Weg, auf welchem dieß zu erreichen, verschiedener Ansicht sein kann; die 
Abücht. die dem Gesehgeber vorschwebt, laun doch laum verkannt werden. 
Der Ordnungeruf schützt Abwesende nicht vor Beleidigung und Verleumdung. 
Dagegen müßte aber Schuh geschafst werden.“ Er „fährt sort: Der gute 
Wille des Haufes könne vielleicht Abhilfe schaffen. Die Rede Lasker's er- 
schüttere seinen Glanben darau. Man könne mit einem bloßen Ordnungs= 
rus Provocationen zum Aufruhr nicht hemmen. Dieß beweise die Rede 
Hasselmanns, die straflos habe gcdruckt werden können und zu agitatorischen 
Zwecken verbreitet worden sei. „Das sind Fälle, wogegen ich Abhilfe schaffen 
wollte. Die Zeil der Atlenlate hat uns zu energischen Maßnahmen gegen 
die Sozialdemotratie gejührt. Wir sind nicht der Meinung, daß die bisher 
ergriffenen Miltel zur Unterdrückung der jozialdemokratischen Agitationen 
ausreichen. Ich bin ziemlich entmuthigt in den weiteren Unternehmungen 
in dieser Richtung, wenn wir nicht die Unterstütung des Parlaments finden. 
Die Vorlage hat den Zweck, richterlich unantastbare Verbreitung von Reden 
zu verhindern, welche besser als alles Andere zu agitatorischen Unterneh= 
mungen zu verwenden sind. Wir hofften, uns die Initiative sparen zu 
können, wenn uns der Antrag aus dem Hause entgegenträte. Darauf haben 
wir vergebens Lewartet.“ Laslker's Hinweis auf England sei durchaus nicht 
zutreffend. Die Antonomie des Neichstags werde durch die Vorlage erwei- 
tert, nicht beschränkt. Uebrigeus habe man das Beispiel Frankreichs und 
Englands vor Augen gehabt. „Ich möchie also nur bitten, in der Vorlage 
nicht einen Eingriff in die Rechte des Parlaments zu erblicken, sondern ein 
weiteres Mittel. ferneren Agitationen des Sozialismus entgegenzukreten. 
Glauben Sie nicht, die Gefahren seien schon so fern gerückt, daß wir wei- 
terer Mittel entrathen können. Wir als Negierungsmitglieder haben das 
Recht, ebenso wie Sie, unsere eigene Ueberzeugung zu haben über das, was 
zur Abwendung von Gefahren nothwendig ist. Wir wären schlechte Patrio= 
ten, wenn wir anders als nach pflichtmäßiger Ueberzeugung handeln wollten.“ 
Kleist-Reßow (feudal-cons.) spricht für die Annahme der Vorlage. Hänel 
(Fortschr.) wendet sich gegen die Ausführungen v. Kleist-Retow's, der hoch- 
befriedigt sein müsse durch den Entwurf; denn Kleist sei gleich dem Reichs- 
kanzler ein erklärter Gegner der parlamentarischen Redefreiheit. Die Beru- 
fung auf die sozialistische Gefahr lasse er (Redner) nicht gelten; denn was 
häilten 9 sozialistische Abgeordnete in einer Körperschaft von 400 Mitqgliedern 
zu bedeuten? Auch das Argument mit dem Mißbrauch der Redefreiheit habe 
in seinen Augen keinen gucheren Werth; man müsse den extremen Parteien 
die Möglichkeit lafsen, ihre Ansichten schrankenlos zu entwickeln. Das noth-
	        
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