108 Jas Venische Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 25.)
immer noch Zwirnsfäden zu lösen haben, aber doch nur Zwirnsfäden. Im
ganzen ist die Einigung von allen Stämmen gebilligt und die Eintracht der
Stämme, die ich als Vorbedingung inneren Friedens und äußerer Geltung
und Sicherheit stets betrachtet habe, ist vorhanden. Nach engeren Formen
der Einheit zu streben ist unnötig: das Beste ist des Guten Feind, ohne
daß ich deswegen in allem contenti estote sagen möchten. Der deutsche
Sinn wird uns nicht verlassen, und ich glaube nicht, daß äußere Gewalt
uns etwas thun kann. Ich gehe noch weiter, ich glaube nicht, daß die
große Gefahr, welche im teutonischen Selbständigkeitsgefühl liegt, uns aus-
einander sprengen könnte. Trotz aller Utopien bleibt herrschendes Prinzip
in Deutschland doch immer die öffentliche Meinung des großen Durchschnitts
der gebildeten Stände. Und was meine Aufnahme in großen Städten wie
Dresden und hier betrifft, so list sie mir deswegen so wohlthuend, weil sie
von dem eben bezeichneten ausschlaggebenden Teile der Bevölkerung ausgeht.
Jsteerde in den heimischen Wald befriedigter zurückkehren, als ich ihn
verließ."
25. Juni. Der Fürst empfängt den Besuch des Prinzen
Ferdinand von Bulgarien und macht demselben einen Gegenbesuch.
Nachmittags folgt er einer Einladung des Magistrats von München
in das Rathaus. Hier beantwortet er den Willkommensgruß des
Bürgermeisters in einer Rede, die mit einem Hoch auf den Prinz-
Regenten schließt.
Am Nachmittag macht er einem Korrespondenten der „Münchner
Allgemeinen Zeitung“ folgende Mitteilungen:
Daß auch München viele Sozialdemokraten zähle, hätten ja die Wahlen
bewiesen; er selber geize nicht nach Wohlwollen von dieser Seite; würde
ihm von daher ein besonderes Wohlwollen zu teil, so müßte er sein eigenes
gutes Gewissen fragen, ob und wodurch er am Wohlwollen seiner alten
Freunde eingebüßt haben könne. So aber könne er die Angriffe verschiedener
Blätter auf ihn als eine OQuittung über sein Wohlverhalten betrachten.
Uebrigens wäre es unrecht, alle Leute, die sozialdemokratisch wählen, auch
der sozialdemokratischen Partei zuzuzählen; sie wollten mit ihrer Wahl viel-
mehr beweisen, daß sie unzufrieden seien; so dumm seien sie nicht, daß sie
glaubten, daß das sozialdemokratische Programm ihren Leiden abhelfen
könne; viele wüßten vielmehr, daß ihnen die Ausführung dieses Programmes
neue Leiden brächte, da es ja die Welt zu einem Zuchthause und Zellen-
gefängnisse machen würde. Fürst Bismarck betrachtet es auch als eine Ano-
malie, wenn just die Deutschen, die doch sonst so schwer unter einen Hut
zu bringen wären, soviel von ihrer individuellen Selbständigkeit, dem sozial-
demokratischen Programm zuliebe, aufzugeben bereit wären. Bei Franzosen
und Russen sei es eher erklärlich, daß sie ohne Widerspruch gehorchen und
entsagen. Fürst Bismarck bedauerte, daß bei seiner Anwesenheit in Wien
Leute bei den Ruhestörungen geschädigt wurden, und meinte, dieselben hätten,
nach ihren Sympathiebeweisen für ihn, wohl selber gelegentlich noch Händel
mit der Polizei gesucht. Er könne über solche Auflehnungen gegen die öster-
reichische Polizei doch sicher nicht erfreut sein. In Wien glaubte der Fürst
in der Bevölkerung zwei Strömungen zu beobachten, eine auf seiten der Be-
völkerung von großem Wohlwollen und eine auf Seiten namentlich mancher
Staatsdiener, die einer anbefohlenen Zurückhaltung ähnlich sah. Er sei
mit den Hofkreisen Wiens seit 40 Jahren in Verkehr gewesen, sei er doch
schon 1852 dort als Abgesandter gewesen. Oesterreich und er hätten in