Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

56 Das Dentsche Reiqh und seine einzelnen Glieder. (Januar 29.) 
habe, daß, sofern Sie nicht noch in den Nachklängen aus älteren Zeiten 
lebten, Sie sich wohl mit uns über dieselbe würden einigen können? Sie 
würden auch diese Vorlage annehmen können, die die Regierung jetzt hier 
vertritt. Warum sollten wir Ihnen eine Kriegserklärung machen? 
Ist aber der Kriegszustand eingetreten, so ist er eben, so glaube ich, 
von anderer Seite erklärt worden. Zu meinem aufrichtigen Bedauern habe 
ich seit langer Zeit gerade in der Presse der Partei, der Herr v. Eynern 
angehört, wiederholt Angriffe gegen die gegenwärtige Regierung lesen 
müssen, Angriffe, aus denen ich nicht belehrt wurde, nach denen ich aber 
annehmen mußte: daß doch eine mehr oder weniger feindliche Stimmung 
vorhanden sei. Selbst wenn man uns lobte, so kam das Lob doch immer 
mit einem Fragezeichen, mit einem einschränkenden Nachsatze zu Tage; im 
Grunde wollte man nichts Rechtes von uns wissen. Ich habe mich seit 
Langem gefragt und bin der Frage am meisten nahe getreten, als ein ge- 
wisses größeres Blatt einen Neujahrsartikel brachte, der ja in weiten Kreisen 
mit Befremden gelesen worden ist: Wo will diese Partei hin? Ich sah es 
nicht, ich war nicht im stande, es zu erkennen. Es betrübte mich die 
Haltung, aber ich fand keine Motive dafür. Jetzt, nachdem neulich die 
große liberale Partei proklamiert oder wenigstens in ihren Anfängen der 
Welt kundgegeben worden ist, da kann ich mir manches eher erklären. Ich 
glaube, ich sehe jetzt klarer. Ich bin überrascht worden durch diese neue 
Partei. Ein Abgeordneter von jener Seite (rechts) hat gestern gemeint, er 
habe das lange kommen sehen. Ich habe diese Voraussicht nicht gehabt. 
Ich will an sich gar nicht sagen, daß, wenn die nationalliberale Partei 
sich durch Hinzuziehung eines Teils von Abgeordneten von der anderen 
Seite verstärkt, daß mir das unerwünscht gewesen sein würde; nur die Art 
und Weise, wie diese Parteibildung zu stande kommt und wie jetzt die 
Herren Redner der nationalliberalen Partei, von der bestechenden Rede des 
Herrn Hobrecht an bis zur Kampfesrede des Herrn v. Eynern, aufgetreten 
sind, das hat mir die Ueberzeugung gegeben, daß eben der Kampf gewollt 
wird, daß die Kriegserklärung gegeben werden soll. Ja, wollen Sie das 
nicht, so sprechen Sie es aus, Sie würden mir damit herzliche Freude 
machen. Die gegenwärtige Regierung thut alles Mögliche, nur sucht sie 
keinen Kampf. Ich bin weit entfernt davon, die Verdienste der national- 
liberalen Partei und die Verdienste des Mannes, der ihr Führer auf einer 
anderen Stelle ist, zu verkennen. Es ist mir vollkommen klar, daß, wie an 
einer anderen Stelle neulich gesagt wurde, mein genialer Amtsvorgänger 
dieser Partei bedurft hat, um Deutschland zu machen. Das erkenne ich 
vollkommen an. Mir ist nur fraglich, ob die Partei auf dem Standpunkt, 
den sie jetzt einnimmt, weiter zu beharren gewillt ist, ob fie es können wird. 
Zwei Dinge machen das Wesen der Partei aus: das Nationale und das 
Liberale. Ich möchte glauben, daß national zu sein jetzt nicht mehr ein 
charakteristisches Kennzeichen einer Partei ist. National ist, Gott sei Dank, 
ganz Deutschland. Also auf diese Eigenschaft hin kann man Parteiunter- 
schiede nicht mehr gründen. Wenn die Partei weiter existieren will in der 
Weise, wie sie bisher existiert hat, so muß sie nach meinem Dafürhalten 
den Liberalismus mehr betonen, als sie es gethan hat, und ich lege mir 
auf diese Weise die Erscheinungen zurecht, die in den letzten Tagen hier vor uns 
getreten sind. Der nationalliberale Redner der Partei hat — und darin 
fand er sich mit dem der freisinnigen Partei zusammen — die hypothetische 
Besorgnis ausgesprochen, die jetzige Regierung könne doch geneigt sein, dem 
Zentrum weitere Konzessionen zu machen. Ja. es überrascht mich; wir sind 
mit der nationalliberalen Partei, seit ich die Ehre habe, hier zu stehen, 
durch viele Vorlagen gemeinsam durchgegangen. Jetzt scheint es zur Zeit
	        
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