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Ich meine also, es ist unvermeidlich, wenn man einmal zugibt, daß
wir einem Kampf mit dem Atheismus gegenüberstehen, daß wir dann Re-
ligion in den Schulen lehren müssen. Ich verwahre mich hier vor der
Schlußfolgerung, daß ich den Atheismus mit der Sozialdemokratie unter
allen Umständen für unzertrennlich halte, das ist nicht der Fall. Aber der
Atheismus greift andrerseits über die Kreise der Sozialdemokratie hinaus.
Ich halte ihn für eine entschiedene Gefahr unseres Staatslebens. Vielleicht
sind Sie nach diesen Auseinandersetzungen nicht mehr so böse über meine
Aeußerungen. Wir stehen vor der Gefahr, atheistisch oder nicht.
Man hat uns den Vorwurf gemacht, wir trieben zu einem Konflikt
zwischen Lehrern und Geistlichen oder zwischen Geistlichen und Gemeinden.
Meine Herren, das erscheint mir unrichtig. Gegensätze zwischen den Kon-
fessionen, Gegensätze zwischen einem Atheismus und einem Theismus, wenn
ich dies Wort hier brauchen darf, die sind da; diese Gegensätze lassen sich
nicht verwischen, das ist nicht möglich. Ich halte es für wahrscheinlich, daß
sie sich mit der Zeit immer mehr verschärfen werden. Das, was die Re-
gierung thun will, ist nicht, sich auf Verwischen einlassen, wohl aber auf
Abgrenzen, und das haben wir in diesem Entwurf erzielen wollen. Wir
wollen, indem wir die Funktionen, die Pflichten und Rechte abgrenzen,
Konflikten, soweit es möglich ist — sie aus der Welt zu schaffen, das ist
ja nicht möglich — vorbeugen, und wenn Sie uns dabei mithelfen und mit
uns arbeiten wollen, so wird uns das erwünscht sein.
Ich wiederhole noch einmal, wir wollen Frieden, wir wollen auch
mit Ihnen den Frieden, und ich habe auch an Sie die Bitte: stellen Sie
sich auch auf diesen Standpunkt, beurteilen Sie das, was wir thun, objektiv
und lassen Sie es nicht zu einer Agitation kommen, die die Massen auf-
regt, die wirklich nicht fähig sind, über diese Frage zu urteilen.
Die schwere Not des dreißigjährigen Krieges war erforderlich, um
die Deutschen dahin zu bringen, daß sie sich vertrugen. Sollte es denn
wieder einer schweren Not der Zeit bedürfen, daß die Deutschen auf reli-
giösem Gebiete sich vertragen lernen? Ich glaube nicht, und ich hoffe, wir
alle miteinander — Sie einbegriffen — vertragen uns, wenn die großen
Gefahren, vor welchen wir stehen, auch Ihren Augen deutlicher geworden
sein werden. (Wiederholtes lebhaftes Bravo rechts und im Zentrum, an-
haltendes Zischen links.)
Kultusminister Graf v. Zedlitz-Trützschler:
Der Herr Abgeordnete Virchow hat Theorien über Religionsunter-
richt und über menschliche Moral hier zu unserer Kenntnis gebracht, die ich
allerdings persönlich für durchaus falsch halte. Ich glaube, eine ganz all-
gemein menschliche Moral gibt es nicht; es gibt eine allgemein menschliche
Unmoral, aber keine allgemein menschliche Moral, (Heiterkeit und sehr rich-
tig! rechts und im Zentrum) und es ist eben die Aufgabe aller Religionen
und ganz besonders des Christentums gewesen, dies dem Menschen angebo-
rene nicht Moralmäßige in Moral umzusetzen. Wäre das nicht richtig,
meine Herren, daun brauchten wir Religionen überhaupt nicht. Und dann
wäre die doch allerdings wunderbare Erscheinung, daß es nie eine Nation
und nie ein Volk gegeben hat, bei dem nicht religiöse Begriffe sich ent-
wickelt haben, ganz unerklärlich. Nun hat der Herr Abg. Virchow zum Be-
weise dessen, daß man auch in der Schule diese allgemein menschliche Moral
— ein Lehrbuch, glaube ich, gibt es darüber nicht; ich wenigstens kenne
keins — lehren könne und dies thatsächlich seit Jahrzehnten unangefochten
gethan habe, auf die nassauischen Landesteile hingewiesen. Das Nassauische
Gesetz über die Simultanschulen — es ist, glaube ich, aus dem Jahre 1817