Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

58 IIEIIIIIITIIIIIIIII 
Ich meine also, es ist unvermeidlich, wenn man einmal zugibt, daß 
wir einem Kampf mit dem Atheismus gegenüberstehen, daß wir dann Re- 
ligion in den Schulen lehren müssen. Ich verwahre mich hier vor der 
Schlußfolgerung, daß ich den Atheismus mit der Sozialdemokratie unter 
allen Umständen für unzertrennlich halte, das ist nicht der Fall. Aber der 
Atheismus greift andrerseits über die Kreise der Sozialdemokratie hinaus. 
Ich halte ihn für eine entschiedene Gefahr unseres Staatslebens. Vielleicht 
sind Sie nach diesen Auseinandersetzungen nicht mehr so böse über meine 
Aeußerungen. Wir stehen vor der Gefahr, atheistisch oder nicht. 
Man hat uns den Vorwurf gemacht, wir trieben zu einem Konflikt 
zwischen Lehrern und Geistlichen oder zwischen Geistlichen und Gemeinden. 
Meine Herren, das erscheint mir unrichtig. Gegensätze zwischen den Kon- 
fessionen, Gegensätze zwischen einem Atheismus und einem Theismus, wenn 
ich dies Wort hier brauchen darf, die sind da; diese Gegensätze lassen sich 
nicht verwischen, das ist nicht möglich. Ich halte es für wahrscheinlich, daß 
sie sich mit der Zeit immer mehr verschärfen werden. Das, was die Re- 
gierung thun will, ist nicht, sich auf Verwischen einlassen, wohl aber auf 
Abgrenzen, und das haben wir in diesem Entwurf erzielen wollen. Wir 
wollen, indem wir die Funktionen, die Pflichten und Rechte abgrenzen, 
Konflikten, soweit es möglich ist — sie aus der Welt zu schaffen, das ist 
ja nicht möglich — vorbeugen, und wenn Sie uns dabei mithelfen und mit 
uns arbeiten wollen, so wird uns das erwünscht sein. 
Ich wiederhole noch einmal, wir wollen Frieden, wir wollen auch 
mit Ihnen den Frieden, und ich habe auch an Sie die Bitte: stellen Sie 
sich auch auf diesen Standpunkt, beurteilen Sie das, was wir thun, objektiv 
und lassen Sie es nicht zu einer Agitation kommen, die die Massen auf- 
regt, die wirklich nicht fähig sind, über diese Frage zu urteilen. 
Die schwere Not des dreißigjährigen Krieges war erforderlich, um 
die Deutschen dahin zu bringen, daß sie sich vertrugen. Sollte es denn 
wieder einer schweren Not der Zeit bedürfen, daß die Deutschen auf reli- 
giösem Gebiete sich vertragen lernen? Ich glaube nicht, und ich hoffe, wir 
alle miteinander — Sie einbegriffen — vertragen uns, wenn die großen 
Gefahren, vor welchen wir stehen, auch Ihren Augen deutlicher geworden 
sein werden. (Wiederholtes lebhaftes Bravo rechts und im Zentrum, an- 
haltendes Zischen links.) 
Kultusminister Graf v. Zedlitz-Trützschler: 
Der Herr Abgeordnete Virchow hat Theorien über Religionsunter- 
richt und über menschliche Moral hier zu unserer Kenntnis gebracht, die ich 
allerdings persönlich für durchaus falsch halte. Ich glaube, eine ganz all- 
gemein menschliche Moral gibt es nicht; es gibt eine allgemein menschliche 
Unmoral, aber keine allgemein menschliche Moral, (Heiterkeit und sehr rich- 
tig! rechts und im Zentrum) und es ist eben die Aufgabe aller Religionen 
und ganz besonders des Christentums gewesen, dies dem Menschen angebo- 
rene nicht Moralmäßige in Moral umzusetzen. Wäre das nicht richtig, 
meine Herren, daun brauchten wir Religionen überhaupt nicht. Und dann 
wäre die doch allerdings wunderbare Erscheinung, daß es nie eine Nation 
und nie ein Volk gegeben hat, bei dem nicht religiöse Begriffe sich ent- 
wickelt haben, ganz unerklärlich. Nun hat der Herr Abg. Virchow zum Be- 
weise dessen, daß man auch in der Schule diese allgemein menschliche Moral 
— ein Lehrbuch, glaube ich, gibt es darüber nicht; ich wenigstens kenne 
keins — lehren könne und dies thatsächlich seit Jahrzehnten unangefochten 
gethan habe, auf die nassauischen Landesteile hingewiesen. Das Nassauische 
Gesetz über die Simultanschulen — es ist, glaube ich, aus dem Jahre 1817
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.