Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

98 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 16.) 
Nach einer Antwort des Abg. v. Stumm (frkons.) und einigen 
weiteren Erklärungen wird der Handelsvertrag ohne namentliche Ab- 
stimmung genehmigt. 
16. März. Polnischer Unterricht. 
Eine Verfügung des Kultusministers gestattet den fakultativen pol- 
nischen Unterricht auf den Mittelklassen der Volksschulen 1—2 Stunden 
wöchentlich für diejenigen Kinder, die den Religionsunterricht polnisch em- 
pfangen. Die polnische Presse findet dies Zugeständnis gering, während 
die deutsche darin ein weitgehendes Entgegenkommen gegen unberechtigte pol- 
nische Ansprüche sieht. 
16. März. (Kolonien.) Abgrenzung von Kamerun. 
Das „Kolonialblatt“ veröffentlicht in einer Extranummer das Ab- 
kommen zwischen Deutschland und Frankreich über die Abgrenzung von 
Kamerun (s. Afrika) nebst erläuternder Denkschrift. 
In kolonialfreundlichen Kreisen wird der Vertrag nicht ungünstig 
aufgenommen, wenn der Regierung auch manche Vorwürfe gemacht werden. 
(Vergl. z. B. v. d. Heydt im „Deutschen Wochenblatt“ Nr. 12). 
März. Der russische Handelsvertrag und die Par- 
teien. 
Der Abschluß des Vertrages wird in vielen Industrie- und Handels- 
städten mit Jubel und Dankadressen an den Kaiser und den Reichskanzler 
begrüßt. 
Während die vertragsfreundliche Presse triumphiert, kündigen agra- 
rische und konservative Blätter der bisherigen Handelspolitik den Krieg bis 
aufs Messer an. Die „Korrespondenz des Bundes der Landwirte“ 
fordert völligen Systemwechsel: „Die Wirtschaftspolitik soll im Reiche wie 
in Preußen völlig andere Bahnen einschlagen und die Interessen der Land- 
wirtschaft in die erste Linie stellen, nachdem — wie der Herr Finanzminister 
Miquel erklärte — bis jetzt die Interessen des Handels und der Industrie 
von der Gesetzgebung 30 Jahre lang vorzugsweise berücksichtigt sind. — 
Nur gegen das System werden wir streiten bis zum letzten Athemzuge, wir 
werden es bekämpfen, ganz gleich wie hoch die Stelle ist, die dafür eintritt. 
Das Gedeihen der Landwirtschaft, das ist das Gedeihen des Vaterlandes 
und die Sicherheit der Monarchie, und so kämpfen wir im wahrsten Sinne 
des Wortes für Thron und Vaterland, wenn wir für die Landwirtschaft 
streiten.“ 
Die „Kreuzzeitung“ schreibt: „Es gilt nunmehr, den Vernichtungs- 
kampf gegen den kapitalistischen Liberalismus und alles, was sonst noch zu 
ihm schwört, zum Austrag zu bringen, nachdem die Erfahrung gelehrt hat, 
daß es in unserem Vaterlande immer noch Elemente gibt, die in Verken- 
nung der realen Bedürfnisse der deutschen produktiven Arbeit der liberalen 
freihändlerischen Phrase in entscheidenden Augenblicken Herresfolge leisten. 
Scharf müssen sich die Geister scheiden — dann erst wird unser Vaterland 
sich wieder jener ruhigen und gedeihlichen Entwickelung erfreuen, die es 
dem ersten Staatsmanne des neugeeinten Deutschen Reiches zu danken hatte.“ 
Andere Blätter wie der „Reichsbote“ und die „Schles. Ztg."“ 
warnen dagegen vor prinzipieller Opposition. 
In der Zentrumspresse z. B. der „HKölnischen Volksztg.“ und 
„Niederrhein. Volksztg.“ werden kritische Bemerkungen laut über die Partei- 
führung und die Haltung des Zentrums gegenüber dem russischen Handels- 
vertrage, wo es sich in zwei fast gleiche Teile spaltete und somit ohne Ein- 
fluß geblieben war. Abg. Lieber, der mit besonderem Nachdruck für den
	        
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