Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 14.) 107 
von meinem Standpunkte aus: sie ist nach meinem Dafürhalten nicht Reichs- 
sache. Die ganze Landwirtschaft ist nur dann Reichssache, wenn sie in Kon- 
kurrenz mit anderen Gegenständen Gegenstand der Gesetzgebung wird. Eine 
selbständige Sorge für die Landwirtschaft durch das Reich kennt die Reichs- 
verfassung nicht; also prinzipaliter würde ich der Meinung sein, daß darin 
eine Aufgabe der Einzelstaaten liegt. Und ich für mein Teil würde einen 
Vorwurf, daß eine solche Enquete noch nicht vorhanden sei, nicht acceptieren 
können. Ich halte mich nicht für berechtigt, als Reichskanzler eine solche 
Enquete zu veranlassen. 
Nun, da ich einmal das Wort noch ergriffen habe, und da mir die 
Gründe, die die Herren Antragsteller geboten haben, keinen Anlaß geben, 
auf diese Dinge einzugehen, möchte ich mit ein paar Worten noch darüber 
sprechen, wie denn die verbündeten Regierungen zu dem Antrage stehen. 
Da muß ich naturgemäß bekennen, daß ich das nicht weiß; denn die ver- 
bündeten Regierungen sind noch nicht in der Lage gewesen, sich über den 
Antrag schlüssig zu machen. Aber, ich glaube doch, so viel mit einiger 
Sicherheit sagen zu können, daß vom Standpunkt des Reichs, ganz abgesehen 
von allen Details, die Annahme des Antrags Kanitz in jeder Beziehung 
unerwünscht wäre. Sie würde uns nötigen, von den Bahnen, welche die 
Politik des Reiches bisher beschritten hat, abzuweichen (Sehr gut! links), 
und zwar nicht bloß von den Bahnen, die man als neuen Kurs bezeichnet, 
sondern auch von den älteren schon. Ob dieser Antrag mit den Handels- 
verträgen vereinbar ist oder nicht, darüber will ich nicht urteilen. Wenn 
man juristische Gutachten einforderte, so würde vielleicht ein Teil so, ein 
anderer Teil so ausfallen, aber das muß ich doch auch aussprechen, daß 
wir, wenn wir den Antrag annehmen, wozu ja von Haus aus nicht die 
mindeste Aussicht war, bei den Regierungen, mit denen wir kontrahiert 
haben, in den Ruf einer mala fides kommen und zwar in hohem Grade. 
(Sehr gut! links.) Ein vielgelesenes konservatives Blatt hat sich längere 
Zeit darin gefallen, die Refaktien, die Eisenbahnausnahmetarife, die andere 
Mächte verwenden könnten, ins Gefecht gegen den Handelsvertrag zu führen. 
Ja, ich glaube, ein unparteiischer Beobachter würde der Meinung sein, 
daß, wenn wir trotz der Handelsverträge einen solchen Antrag annähmen, 
wie der Graf Kanitz ihn uns vorgelegt hat, wir dann ungleich mehr mala 
fides bewiesen, ungleich weniger zuverlässig handelten, als alles Das wäre, 
was jene Zeitung an die Wand gemalt hat. Wir würden also in unserer 
allgemeinen auswärtigen Politik das Vertrauen bei anderen Mächten zu 
verlieren in Gefahr stehen, das zu erwerben und zu befestigen wir uns 
bisher jahrelang bemüht haben. (Bravo! links und aus der Mitte.) 
Wir haben nirgends, an keiner Stelle der deutschen Erde, uns etwas 
vergeben und wir haben von Jahr zu Jahr an Vertrauen gewonnen. Wenn 
aber dieser Antrag angenommen würde und die verbündeten Regierungen 
darauf eingingen, so würde ich nicht geneigt und wahrscheinlich auch nicht 
imstande sein, die deutsche Politik nach Außen zu vertreten, denn ich würde 
alles Vertrauen verloren haben. 
Wir haben ferner in unserer Wirtschaftspolitik das Bestreben gehabt, 
Handel und Export nach dem Ausland auszudehnen. Auch mit dieser 
Politik würden wir brechen müssen mit dem Tage, wo wir den auslän- 
dischen Handel nach dem Rezept des Grafen Kanitz zuschneiden würden. 
(Sehr richtig! links.) 
Wir würden nicht mehr in der Lage sein, Vertrauen bei den aus- 
ländischen Kaufleuten zu erlangen, wir würden auf Schwierigkeiten bei 
jedem Schritt stoßen, und Mißtrauen da begegnen, wo wir Vertrauen 
brauchen. 
 
	        
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