114 Das Deutsche Reich und seine einzelne Glieder. (April 20.)
neuer Pulversorten und der Techniker in der Vervollkommnung der mili-
tärischen Ballistik und deshalb die für die Leiter eines kriegslustigen Staates
unter Umständen entscheidende Erwägung, daß sie es nicht für erfolgreich
halten, loszuschlagen, wenn ihre Heere nicht im Besitze der neuesten Er-
findungen sind. Es klingt fast wie Satyre, ist es aber nicht, daß der
Chemiker bisher die Schwerter in der Scheide hält und durch seine Erfin-
dungen über Krieg und Frieden entscheidet. Ich will damit nur aus-
sprechen, daß ich nach meinen politischen Erfahrungen an keine nahe be-
vorstehenden auswärtigen Verwickelungen glaube, weil keine von den großen
europäischen Mächten mit ihren Vorbereitungen fertig ist. Aber immerhin
sind die Schwierigkeiten, denen wir entgegengehen so groß, daß sie uns
gebieterisch die Notwendigkeit nahe legen, wie der Seemann sagt, uns klar
zum Gefecht zu halten; dazu rechne ich, daß in den Parteikämpfen Maß
gehalten werde, daß die staatserhaltenden Parteien sich weniger trennen,
sondern nach Möglichkeit einander nähern und sich wie früher zu einem
Kartell zusammenzuthun, dem Bedürfnisse geordneter Zustände folgend,
welches 2 einigt unter Pflege unserer verfassungsmäßigen Einrichtungen
und daher komme ich auf den Punkt, der mir augenblicklich am Herzen
liegt, daß wir uns so einrichten müssen, wie wir auf die Dauer im Geiste
und Sinne der Verfassung bestehen können. Die Aemter des Reichskanzlers
und des preußischen Ministerpräsidenten können auf die Dauer nicht getrennt
sein, ohne die Verfassung zu fälschen, die Autorität des Reiches zu schwächen.
Der Gedanke einer Personal-Union zwischen Reich und Preußen, ähnlich
derjenigen wie zwischen Schweden und Norwegen, hat niemals in der Ver-
fassung gelegen, und wir haben, wie die Herren von Ihnen, die alt genug
sind, um das mit mir erlebt zu haben, bestätigen werden, zwischen Reichs-
politik und preußischer Politik an die Möglichkeit eines gegenseitigen Be-
kämpfens und Rivalisierens niemals gedacht und wer diesen Gedanken zur
Wirklichkeit machen wollte, der, ich will keinen harten Ausdruck gebrauchen,
schädigt unwissend vielleicht unsere nationale Existenz, unsere Unabhängig-
keit, unsere verfassungsmäßige Sicherheit. Ein Reichskanzler, der nicht auf
die Autorität des preußischen Staatsministeriums gestützt ist, schwebt mit
der seinigen in der Luft, wie ein Seiltänzer. Die Bedeutung des Reichs-
kanzleramts in unserer Politik im Verhältnisse zu Preußen ist gedacht wie
etwa in jenem Beispiele aus der griechischen Mythologie, die vom Antäus,
der aus der Berührung mit der vaterländischen Erde immer neue Kräfte
sog, und den Herkules in die Luft heben und isolieren muß, um ihn zu
erwürgen. Es ist ganz einleuchtend, daß ein Reichskanzler, der gestützt ist
auf das gesamte preußische Staatswesen, mehr Bedeutung hat, als einer,
der nur auf seinen persönlichen Wirkungskreis und auf die Erfahrungen,
die er persönlich in militärischer Stellung sammeln konnte, angewiesen ist.
Das Reich ist gestützt auf die Ministerien aller verbündeten Staaten,
deren jedes seinem Lande verantwortlich ist für die Art, wie es sich im
Bundesrat verhält, namentlich trifft dies aber auf das preußische Staats-
ministerium zu und ich bedauere, daß meine Landsleute im preußischen Land-
tage Interpellationen hierüber völlig unterlassen haben, vielleicht in der
Hoffnung, daß, wenn sie artige Kinder wären, sie wieder nach vorn kommen
würden und dem Reichskanzler zustimmend, ihn seine Politik ohne preußische
Kontrolle betreiben ließen. Ein Reichskanzler, der nicht die Stimmführung
für Preußen hat, ist ja in der Gesetzgebung eine ganz ohnmächtige Potenz.
Er kommt in der verfassungsmäßigen Ordnung der Dinge gar nicht zur
Erscheinung. Er kann die Gesamtpolitik nicht anders vertreten, als in der
Uebereinstimmung mit der Mehrheit seiner preußischen Ministerkollegen.
Wenn er sich von denen lossagt, so steht er in der Luft. Im Bundesrat