Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

138 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (August 26./30.) 
Vortrage über die soziale Frage zum Schutze des Mittelstandes Abänderung 
der Gewerbeordnung, Einschränkung des Submissionswesens, Sicherung der 
Forderungen der Bauhandwerker, Einschränkung des Konsumvereinswesens 
und strengere Handhabung des Wuchergesetzes. Prof. Schädler führt aus, 
katholische Kinder müßten in katholischen Schulen erzogen werden, Schule 
und Lehrerbildungsanstalten müßten durchaus auf christlicher Grundlage 
aufgebaut werden. Dr. Müller-Marienhausen wünscht Unterstützung der 
gemeinnützigen katholischen Institute. Abg. Lieber spricht über die Be- 
deutung der Ideale. Von den Beschlüssen sind folgende hervorzuheben. 
Die sofortige Durchführung der Sonntagsruhe, fachgenossenschaftliche Or- 
ganisationen der gewerblichen Arbeiter, durch internationale Vereinbarung 
ermöglichte Regelung der Arbeitszeit, Gründung von freien Zuschußkassen 
zu der gesetzlichen Kranken-, Invaliditäts- und Altersversicherung, Grün- 
dung gemeinnütziger Baugesellschaften, Schaffung einer gesetzlichen berufs- 
genossenschaftlichen Organisation des landwirtschaftlichen Standes auf christ- 
licher Grundlage, obligatorische Organisation des Handwerks und Einführung 
eines Gesetzes zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs. Resolutionen 
wurden ferner angenommen über die Wiederherstellung der territorialen 
Unabhängigkeit des Papstes, die Durchführung der völligen Parität, Er- 
richtung einer katholischen Universität und Erteilung des Religionsunter- 
richts allein durch die Kirche. 
Mit dem Verlauf des Katholikentages ist die „Germanias höchst 
zufrieden; sie schreibt: „... Wer im Lande in Kreisen der Katholiken sich 
umhörte, der wird, was wir hier in unsern Kreisen erlebten, gewiß überall 
gefunden haben: eine förmliche Spannung auf die weiteren Berichte, die 
schleunigste und eifrigste Lesung derselben, die innigste Befriedigung darüber. 
Was aber noch mehr ist, war die Teilnahme an der warmen Begeisterung 
und der freudigen Erhebung, welche die Kölner Tage beherrschten, die volle 
Zustimmung zu den dortigen Beschlüssen und Entschlüssen, der feste Vorsatz: 
im Geiste dieser großartigen Versammlung des katholischen Deutschlands 
auf den von ihr umschriebenen Wegen, nach den alten und doch immer 
neuen und den gemäß den veränderten Zeitverhältnissen noch wieder er- 
weiterten Zielen mitzustreben, in voller Kraft und Hingebung.“ 
Ungünstiger urteilt die protestantische Presse; die „Voss. Zei- 
tung" nennt den Tag ein prunkendes Schaustück ohne wertvollen Inhalt 
und die „Köln. Ztg.“ betont, trotz des äußeren Scheins sei die innere 
Einigkeit des Zentrums keineswegs über allen Zweifel erhaben; man habe 
auf dem Katholikentage nur ganz allgemeine politische Fragen behandelt, 
um den Gegensatz zwischen der demokratischen Richtung Liebers und dem 
agrarisch-adligen Flügel nicht hervortreten zu lassen. „Enttäuschtere Ge- 
sichter", schreibt die K. Z., „hat noch niemand bei den Vertretern der kleinen 
Zentrumspresse gesehen als am letzten Tage, da in Liebers Rede die Politik, 
die schöne herzerquickende Politik des demokratischen Zentrumsflügels immer 
und immer noch nicht zur Sprache kam und die Sonntagsepistel des selbst- 
gefälligen Redners bis zum Ende währte. Konnte doch der unbefangene 
Zuhörer im Laufe der vier öffentlichen Versammlungen sich keinen größern 
Gegensatz in den Kreisen der ultramontanen Welt ausmalen, als er ihm 
hier entgegentrat. Hier die vornehme Ruhe, reiche Erfahrung und unbe- 
fangene Wissenschaft eines Schröers, eines Schorlemer-Alst, eines Arenberg, 
dort die effekthaschende Beredsamkeit, agitatorische Tendenz und politische 
Rechthaberei eines Orterer, eines Schädler und die unentwirrbare Logik 
eines Lieber. Wer von diesen waren die „Männer von klarem Begriff und 
großem Herzen, die niemals die Einigkeit stören?“ Ein weiteres psycho- 
logisches Moment zur Erforschung der Volksseele, die in der weiten Brust
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.