Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

Das Deutsche Reic und seine einzelnen Glieder. (Sept. 26.) 159 
eskortiert. Jene Zeitungen machen daraus eine ungehörige nationalpolnische 
Prunkentfaltung. Und doch sind diese Eskorten nur älter Brauch, der ge- 
schichtlichen und hierarchischen Stellung des Erbischofs von Gnesen-Posen 
entsprechend. Ich selbst habe, da ich Probst in Wreschen war, zur Be- 
grüßung und Einholung des Erzbischofs hundertundzwanzig Mann aufs 
Pferd gesetzt — zehn davon sind mir heruntergepurzelt — und der Erz- 
bischof war Dr. Dinder, ein Deutscher! Nicht dem Deutschen gilt das feier- 
liche Aufgebot und nicht dem Polen, sondern allein dem Erzbischof. 
Was kann man uns vorwerfen? Und was fürchtet man von uns? 
Seit mehr als dreißig Jahren herrscht, was an uns ist, ungetrübte Ruhe 
im Lande. Wenn schon unsere Gesinnung uns nicht dazu brächte, die ein- 
fachste Besinnung würde uns dazu veranlassen. Eine Insurrektion ist heut- 
zutage eine Unmöglichkeit; denn ein einziges Bataillon würde ausreichen, 
selbst hunderttausend Sensenmänner niederzuwerfen. Die Gefahr droht von 
einer ganz anderen Richtung. Hier drängt man förmlich den Sozialismus 
auf das flache Land. Man treibt unsere Arbeiter dazu, auf Grund der 
Koalitionsfreiheit sich zusammen zu thun, von dem Versammlungsrecht, 
von der Vertragsfreiheit Gebrauch zu machen, und der Grundbesitzer mag 
dann sehen, wo er bleibt, der deutsche wie der polnische Grundbesitzer. Das 
sieht auch der Oberpräsident ein. Herr v. Milamowitz-Möllendorf hat er- 
kannt, daß der Grundbesitzer beider Zungen ohne den polnischen Arbeiter 
von jenseits der Grenze nicht auszukommen vermag, und hat deshalb aus- 
gesprochen, daß es unthunlich sei, den Zuzug dieser Arbeiter fernzuhalten, 
man müsse sich mit dieser Notwendigkeit einzurichten suchen. Das hat man 
entstellt und ihm die Aeußerung in den Mund gelegt: das Vordringen der 
Polen in die Provinz Posen sei nicht zu hemmen, und man müsse froh 
sein, sie in guter Stimmung zu erhalten. 
Nun geschieht allerdings das Mögliche, die gute Stimmung zu ver- 
derben. Die Reden des Fürsten Bismarck aus den achtziger Jahren, die 
die härtesten Angriffe gegen die Polen enthalten, werden ohne die Ant- 
worten und Widerlegungen der polnischen Abgeordneten als Flugblätter 
verbreitet, chauvinistische deutsche Blätter und chauvinistische polnische Blätter 
drucken gegenseitig ihre aufreizenden und beleidigenden Artikel ab. Hierbei 
haben jene Männer die Hand im Spiele, die sich so vortrefflich auf das 
Geschäft und seine Vorteile verstehen. Die Anregung des Fürsten Bismarck, 
den Hundert-Millionenfonds zur Erwerbung von Domänen zu verwenden, 
lockt so manchen mit der Aussicht auf gute Versorgung durch billige Do- 
mänenpacht. 
Ich frage mich vergeblich, was durch unsere gewaltsame Germani- 
sierung — und offene Gewalt wird man doch nicht anwenden wollen — 
gewonnen werden soll! Glaubt man vielleicht, Rußland werde im Falle 
eines für uns unglücklichen Krieges die Provinz Posen nicht antasten, weil 
sie deutsch geworden? Das wäre ein Aberglaube, den ein Staatsmann nicht 
teilen kann. Das siegreiche Rußland würde vor allem nach Danzig und 
dem ganzen Weichselgelände greifen, wie es schon weit größere Gebiete ver- 
schlungen hat, unbekümmert darum, daß sie nach Sprache, Religion und 
Sitte ihm fremd waren. Sei dieser Krieg ferne, der uns keinen Gewinn 
bringen kann, denn das besiegte und völlig hinter die Weichsel zurück- 
geworfene Rußland würde aus diesem Verlust nur neue Kraft ziehen, weil 
es dann rücksichtslos alles russifizieren und aus einem Slavenstaat sich zu 
dem Slavenstaat machen würde! 
Wir fühlen uns als preußische Unterthanen, wir haben den bestehenden 
staatsrechtlichen Zustand vorbehaltlos anerkannt. Was etwa in zweihundert 
oder dreihundert Jahren sein wird, das wissen wir nicht, und niemand
	        
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